Die traditionelle Innovationsbranche
Welche Bedeutung hat die Landwirtschaft für die Schweiz? Blickt man nur auf den Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung, kann man salopp sagen: keine.Das ist freilich nur eine halbe und erst noch verfälschte Wahrheit. Klar, misst man den Anteil des 1. Sektors (Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei) an der Bruttowertschöpfung der Schweizer Wirtschaft, dann kommt man auf gerade noch 0,6 Prozent. Der Wert sinkt kontinuierlich: 1995 waren es 1,4 Prozent, im Jahr 2000 noch 1,1 Prozent. Gegenüber dem 2. Sektor (produzierendes Gewerbe, Industrie) und vor allem dem 3. Sektor (u. a. Dienstleistungen inkl. Finanzsektor, Verwaltung, Gesundheitswesen) erscheint die Landwirtschaft geradezu marginal. Doch die Landwirtschaft steht nicht nur für sich selbst, sie ist auch der Anfang einer inländischen Wertschöpfungskette, zu der die verarbeitende Nahrungsmittelindustrie, Transport und Logistik sowie insbesondere auch der Handel gehören.
Schweizer Verbraucher zahlen mehr
Eine 2019 publizierte Untersuchung des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco, mit Daten aus dem Jahr 2015) stellt fest, dass im internationalen Vergleich der Anteil des Handels an dieser Wertschöpfungskette überdurchschnittlich hoch ist. Im Gegensatz zur verarbeitenden Industrie habe der Handelssektor den Anteil an der inländischen Food-Wertschöpfung seit 2008 deutlich ausweiten können – allerdings nicht, weil etwa die Schweizer Grossverteiler ihre Margen erhöht hätten: «Diese Ausweitung ist auf eine Zunahme der effektiven Distributionsleistung aufgrund seiner Intermediärfunktion zurückzuführen.» Dieselbe Studie zeigt auch auf, dass die Wertschöpfungskette als Ganzes aufgrund vermehrter Importtätigkeit in den letzten Jahren Marktanteile verloren hat.
In der Schweiz zahlten Verbraucher im Jahr 2015 für einen identisch gewichteten Warenkorb an Food-Produkten im Durchschnitt 45 Prozent mehr als in den vier Nachbarländern. Der grösste Preisunterschied existierte bei Fleischprodukten (85 Prozent höher). Für den gesamten Konsumgüterwarenkorb ergibt sich ein Preisaufschlag von 29 Prozent. Von den Food-Konsumausgaben der inländischen Verbraucher verbleiben gemäss der Studie rund 58 Prozent als Wertschöpfung im Inland.
Der Anteil der Landwirtschaft allerdings fällt mit 7 Prozent bescheiden aus. Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie kommt auf 13 Prozent, Handels- und Transportdienstleistungen liegen bei 29 Prozent. Gemäss den Studienautoren liegt dies auch daran, dass Grosshandels- und Transportunternehmen nicht nur direkt im Zusammenhang mit der Endnachfrage involviert seien, «sondern auch indirekt im Zuge der verschiedenen vorgelagerten Produktionsschritte sowie des Warenimports als Teil der Wertschöpfungskette fungieren».
Bauern sind populär
In Zeiten, in denen ein Krieg in Europa keine theoretische Möglichkeit, sondern bittere Realität ist, bekommen die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelbranche eine ganz andere Bedeutung – die Frage nach dem Selbstversorgungsgrad wird gestellt. Die verkürzte Antwort lautet: Die Schweiz könnte mit grossen Anstrengungen die Hälfte der benötigten Nahrungsmittel selbst herstellen; in vielen Bereichen ist aber auch die inländische Produktion von Importen abhängig, insbesondere bei Saatgut, Dünger und Futtermitteln.
Die Landwirte in der Schweiz bringen nicht nur einen wesentlichen Teil des Essens auf unseren Tisch, sie pflegen auch die Schweizer Kulturlandschaft – eine Leistung, die schwer zu beziffern ist. Schliesslich ist das bäuerliche Erbe in einem Land, in dem die meisten Menschen in urbanen Gebieten wohnen, auch selbst ein Kulturgut. Bauern geniessen einen grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Das drückt sich auch bei Wahlen aus: 2023 wurden gemäss einer Zählung von SRF 20 Bauern sowie 30 weitere bauernnahe Politiker in den Nationalrat gewählt. Somit hat jeder vierte Volksvertreter einen engen Bezug zur Landwirtschaft, obwohl 2024 nur 2,3 Prozent der Bevölkerung ihr Geld in dieser Branche verdienten. 148’800 Menschen in der Schweiz arbeiten hauptberuflich in der Landwirtschaft, das ist ein halbes Prozent weniger als im Vorjahr. Nicht ganz zwei Drittel davon sind Männer. Auf allen Schweizer Betrieben leben etwa 1,5 Millionen Kälber, Rinder und Kühe, 1,3 Millionen Schweine und 13,2 Millionen Hühner.
Büro-Bauern
Die schlagkräftige Bauernlobby im Bundeshaus will in den nächsten Jahren aber nicht primär die finanziellen Leistungen an die Landwirtschaft ausbauen, sondern – wie «Bauern-General» Markus Ritter im Interview mit dem LEADER sagt – vor allem die Bürokratie abbauen. Ein guter Teil dieser Bürokratie ist eine Folge des Systems der Direktzahlungen, für die Landwirte in Gegenzug haufenweise Dokumentationen einreichen müssen. Diese lästige Arbeit könnten vielleicht bald clevere Systeme mit künstlicher Intelligenz erledigen, wenn es nach den Forschern in der landwirtschaftlichen Aussenstelle der Fachhochschule OST in Tänikon geht.
Zu Gotthelfs Zeiten waren noch die meisten Schweizer ganz oder teilweise Bauern, heute haben Landwirte bald Seltenheitswert. Noch 2003 zählte die Schweiz 65’866 Betriebe, 2024 waren es noch 47’075. In der Ostschweiz beschäftigt die Landwirtschaft über 20’000 Menschen, gut 10’000 davon vollberuflich. Die Branche hat damit durchaus auch eine volkswirtschaftliche Bedeutung.
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Topografie gibt Bewirtschaftung vor
Vertieft man sich in Landwirtschaftsstatistiken, wird deutlich, wie sehr die Topografie und damit die Natur vorgibt, was die Landwirte tun: In beiden Appenzell und in St.Gallen gibt es kaum Äcker, die hügeligen Flächen werden vor allem als Wiesen und damit für Milchwirtschaft genutzt.
Im Thurgau hingegen gibt es einen signifikanten Anteil an Ackerland – 38 Prozent, was präzise dem Schweizer Durchschnitt entspricht. Im Thurgau gibt es mehr ebene Flächen, und im tiefer liegenden Kanton hilft auch das Mikroklima beim Kultivieren von Pflanzen. Der überdurchschnittlich von der Agrarwirtschaft geprägte Kanton Thurgau erwirtschaftet über alle Branchen gesehen ein kleineres Bruttoinlandprodukt als der Schweizer Durchschnitt, der Anteil von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei ist mit 2,1 Prozent deutlich höher als in der Schweiz (0,6 Prozent, 2024).
80’000 Franken Einkommen pro Hof
Die grossen Ackerflächen in der Schweiz finden sich vor allem in den Kantonen Waadt, Aargau und Zürich. Die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche der Schweiz beläuft sich auf 10’420 Quadratkilometer, was immerhin gut einem Viertel des Landes entspricht. In den Statistiken werden neben Gras- und Ackerland noch wenige Prozent etwa für Rebland ausgewiesen. Im Durchschnitt bewirtschaftet ein Betrieb 21,8 Hektaren Land (Zahlen von 2023). Während die Zahl der Bauernhöfe seit Jahren sinkt, nimmt die Grösse der verbleibenden Betriebe jeweils leicht zu – es wird also mehr Fläche effizienter bewirtschaftet.
Agroscope, das Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, hat errechnet, dass 2023 die landwirtschaftlichen Einkommen bei durchschnittlich knapp 80’000 Franken lagen – pro Betrieb, nicht pro Person. Dieses Einkommen entspricht der Differenz zwischen den Erträgen und den Aufwänden.
Nachhaltig und innovativ
Alle Ostschweizer Kantone müssen vor allem Vorgaben des Bundes vollziehen, sie unterstützen aber ihre jeweilige Landwirtschaft auch mit kantonalen Beiträgen – die wiederum oft gekoppelt an Bundesbeiträge gesprochen werden. Aus den offiziellen Berichten, Studien und Strategien wird deutlich, dass Tradition und Brauchtum hoch geschätzt werden, die Landwirtschaft aber dennoch vor allem innovativ und nachhaltig zu sein hat. In St.Gallen wird als Ziel der kantonalen Landwirtschaftspolitik 2023+ «eine ressourcenschonende, angepasste Landwirtschaft, die einen Beitrag an die Versorgungssicherheit des Kantons leistet» postuliert: Die Landwirtschaft soll innovativ und fortschrittlich sein.
Als Beispiel für viele konkrete Massnahmen kann das Langzeitprojekt Bodenverbesserung Rheintal dienen: Eine Fläche von 4000 Hektaren soll in den nächsten Jahren mit Unterstützung des Kantons aufgewertet werden. Unter anderem wird geprüft, ob hier geeignetes Aushubmaterial aus dem Hochwasserschutzprojekt Rhesi verwendet werden kann. Bei der grossflächigen Aufwertung wird auch eine ökologische Infrastruktur mitgeplant.
Alpen erhalten
Im kleinen Kanton Appenzell Innerrhoden umfasst ein Viertel der Kantonsfläche landwirtschaftlich genutzte Alpen, die nicht zuletzt auch das Bild für die touristische Nutzung prägen. Mit 170 Alpen und Alprechten ist es eine Herausforderung, «die typische Kleinstruktur und die sorgfältige Bewirtschaftung in eine moderne Form zu bringen», wie das Innerrhoder Landwirtschaftsamt schreibt. «Es wird zunehmend schwieriger, die flächendeckende Bewirtschaftung der Alpbetriebe sicherzustellen.» Der Kanton versucht deshalb, mit tierbezogenen Sömmerungsbeiträgen, flächenbezogenen Biodiversitätsbeiträgen und Landschaftsqualitätsbeiträgen Gegensteuer zu geben. Mit einem kantonalen Förderkonzept will auch der Kanton Appenzell Ausserrhoden die Landwirtschaft, die einen bedeutenden Beitrag an die Attraktivität des Kantons leistet, pflegen und weiterentwickeln. Neben Tradition und gelebtem Brauchtum stehen die Ausserrhoder Bauern schliesslich auch für Innovation und Kreativität. Stets mit einem Blick auf die Wirtschaftlichkeit sollen neuste Technologien im Umwelt- und Energiebereich gefördert werden. Der Kanton hilft bei Strukturverbesserungen oder gibt Starthilfen im Agrotourismus; Ausserrhoden unterstützt auch Massnahmen der Biodiversität und der Tiergesundheit sowie Investitionen in erneuerbare Energiequellen.
Thurgau beansprucht Führungsrolle
Mehr als die Hälfte der Fläche des Kantons Thurgau wird landwirtschaftlich genutzt – doppelt so viel wie im Schweizer Durchschnitt. Deshalb verwundert es nicht, dass die Landwirtschaft in der Strategie 2040 der Thurgauer Regierung breiten Raum einnimmt – unter dem auf den ersten Blick vielleicht überraschenden Titel «sanfte Landwirtschaft». Die Landwirtschaft sei prägend für das Bild des Thurgaus und ein Unterscheidungsmerkmal, «die Entwicklung und Pflege einer intakten und für unterschiedliche Nutzungen attraktiven Landschaft ist daher für den Thurgau essenziell», heisst es in dem Bericht. Die intakte Landschaft des Thurgaus werde in einer immer stärker verbauten Schweiz an Wert gewinnen. Die Thurgauer Landwirtschaft sei in der Schweiz und teilweise auch weltweit führend: Der Wertschöpfungs- und Beschäftigungsanteil sowie die Produktion pro Fläche sind gemäss der Thurgauer Regierung deutlich höher als im schweizerischen Durchschnitt. Dieser Führungsrolle können Landwirtschaft und verarbeitende Unternehmen künftig noch besser gerecht werden, «wenn sie sich in vorbildlicher Art und Weise auf das einzigartige Thurgauer Terroir ausrichten und in nachhaltiger Produktion und eigener Vermarktung Massstäbe setzen». Der Kanton will einer solchen Entwicklung durch die Unterstützung von Ausbildung und Forschung den Boden bereiten.
Text: Philipp Landmark
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer, Pixabay