St.Gallen

Das Bauen ohne Land kommt

Das Bauen ohne Land kommt
Atilla Färber
Lesezeit: 6 Minuten

Die Raumpioniere AG aus St.Gallen hat ein Tool entwickelt, mit dem sich das Verdichtungspotenzial jeder Liegenschaft in der Schweiz berechnen lässt. Damit wollen CEO Atilla Färber und sein Team bis 2030 eine halbe Milliarde Quadratmeter an ebendiesem aufzeigen. Und Lebensraum für über 20´000 Menschen schaffen. Ob das realistisch ist?

Atilla Färber, die Mission der Raumpioniere ist es, mithilfe von Verdichtung unser Land fit für die «Elf-Millionen-Schweiz» zu machen, die Sie für 2050 als real ansehen. Wie soll das gelingen?
Sicher ist, dass der Druck auf unseren Raum zunimmt – immer mehr Menschen wollen an gut erschlossenen Ort leben, ob es nun neun, zehn oder elf Millionen sind. Unsere Mission ist eine ebenso ehrgeizige wie wichtige Aufgabe. Um sie zu erfüllen, ist eine umfassende Strategie nötig, die auf sechs Schlüsselbereichen basiert: Erstens setzen die Raumpioniere auf eine nachhaltige Verdichtung von städtischen und ländlichen Gebieten. Dies bedeutet, dass bestehende Siedlungen optimiert und effizienter genutzt werden, um neuen Raum zu schaffen, ohne die Umwelt zu belasten. Zweitens ist die Investition in die Infrastruktur von entscheidender Bedeutung, um das Wachstum der Bevölkerung zu unterstützen. Drittens soll die Stadtplanung auf eine nachhaltige, integrative Weise gestaltet werden. Das beinhaltet etwa die Förderung von Wohnquartieren, die eine hohe Lebensqualität bieten und den Bedürfnissen einer wachsenden Bevölkerung gerecht werden.

Und die weiteren drei Punkte?
Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind ein zentrales Element. Dies umfasst den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien, den Schutz von Grünflächen und die Förderung einer umweltfreundlichen Lebensweise. Fünftens sind die Ausbildung der Bevölkerung und die Förderung von Innovation entscheidend, um die Herausforderungen des Bevölkerungswachstums zu bewältigen. Und last, but not least liegt ein wesentlicher Aspekt des Erfolgs im offenen Dialog mit der Bevölkerung und der Einbindung der Bürger in den Planungsprozess. Insgesamt ist unsere Mission darauf ausgerichtet, die Schweiz durch eine ganzheitliche Herangehensweise an die Herausforderungen, die das Bevölkerungswachstum mit sich bringt, zukunftsfähig zu machen. Sollten wir wider Erwarten bei der Neun-Millionen-Schweiz bleiben, hätten wir auch nichts verloren, sondern an Qualität dazugewonnen.

Das grösste Problem bei Verdichtungen ist: Jeder will sie, aber nicht vor der eigenen Haustüre. Wie begegnen Sie Einsprachen und Rekursen?
Hier verfolgen wir eine mehrstufige Herangehensweise: Am wichtigsten sind eine offene Kommunikation, frühzeitige Information und Bürgerbeteiligung sowie Einbeziehung von Anwohnern. Wir machen das bei einem aktuellen Projekt mit einem Gartenfest, wozu wir Anwohner, Nachbarn und Interessenten einladen. Dann folgen hohe Qualitätsstandards und Nachhaltigkeit in Projekten. Als Drittes sehen wir Informationskampagnen zur Veranschaulichung der Vorteile als essenziell an: Es geht darum, «Verdichtung» populär zu machen! Und zu guter Letzt sind die Einhaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen und die Zusammenarbeit mit Behörden essenziell. Die Behörden sind Gott sei Dank immer noch eine Instanz, die ein gewisses Mass an Vertrauen schaffen. Kurz: Wir wollen praktikable Lösungen mittels Kooperation und Dialog schaffen.

 

 

«Wir möchten ‹Verdichtung› populär machen.»

Müsste für eine optimale Verdichtung nicht das Beschwerderecht eingeschränkt werden?
Die Bürgerbeteiligung und das Recht auf Beschwerde sind wichtige Elemente des demokratischen Prozesses und sollten respektiert werden. Unsere Strategie zielt darauf ab, durch offene Kommunikation, frühzeitige Information und Bürgerbeteiligung gemeinsam clevere Lösungen zu finden. Eine pauschale Einschränkung des Beschwerderechts könnte das demokratische Prinzip gefährden.

Also nicht pauschal, sondern punktuell?
Die Politik spielt eine wichtige Rolle dabei, den Prozess der Verdichtung zu steuern und zu regulieren. Dabei ist es entscheidend, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung berücksichtigen. Da haben die Damen und Herren Politiker noch einiges zu tun. Um den Einsprachen etwas mehr Substanz und Ernsthaftigkeit zu verhelfen, könnte man sich schon überlegen, die Hürden für Einsprachen etwas höher anzusetzen – inhaltlich und finanziell.

Ein weiteres Problem ist, dass die Schweizer Bevölkerung nicht nur wächst, sondern auch immer mehr Platz pro Individuum beansprucht.
Wir arbeiten an Lösungen, um diesem Trend entgegenzuwirken. Konkret unser aktuelles Steckenpferd: Das Identifizieren und Entwickeln von «versteckten Mehrfamilienhäusern». Wir haben in der Schweiz rund 1,1 Millionen EFH; in etwa der Hälfte leben zwischen einer und zwei Personen. An einem gut erschlossenen Ort könnten auf einer solchen Parzelle problemlos 20 Personen in sechs Wohnungen leben. Mit unserer Mission setzen wir hier an: Mit unserem Auftritt und unserem Potenzialrechner öffnen wir die Türe zu solchen Eigentümern – und realisieren dann in der Folge diese sechs Wohneinheiten da, wo heute noch ein EFH steht. Weiter schauen wir, dass wir in unseren Projekten gemeinschaftliche Räume und Einrichtungen schaffen, die den individuellen Bedarf an Wohnraum reduzieren. Ein Beispiel: Wir integrieren ein Gästezimmer zur gemeinsamen Nutzung in ein Projekt oder eine Art Coworking für die Bewohner eines Hauses. Das funktioniert wunderbar – ich selbst wohne in einem solchen Haus; wir haben sogar ein Auto, das sich 14 Parteien teilen.

 

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«Wir sind keine Immo-Haifische, sondern Immobilien-Nemos.»

Das bedeutet aber: Wir werden verzichten müssen – auf zu grosse Wohneinheiten und immer mehr Quadratmeter.
Unserer Gesellschaft schadet es kaum, mal etwas «Verzicht» zu lernen. Wir sind ja alle, Hand aufs Herz, so was von verwöhnt! Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Vielleicht ein bisschen – aber nur für die Menschen, die Mühe mit Veränderungen haben. Wir gehen schwer davon aus, dass das Wohnen in Zukunft anders ausschauen wird, als es die letzten 50 Jahre war.

Sie haben einen Potenzialrechner auf Ihrer Webseite installiert, der jedem Eigentümer zeigt, welches Verdichtungspotenzial seine Liegenschaft hat. Haben Sie tatsächlich sämtliche Bauten und Reglement aller 2136 Schweizer Gemeinden hinterlegt?
Jein. Wir kennen die wichtigsten Eigenschaften – wie oberirdische Volumen – jeder Baute in der Schweiz, und wir haben sämtliche Bau- und Zonenordnungen der ganzen Deutschschweiz digitalisiert – und noch ein paar weitere dazu. Insgesamt haben wir rund 1500 Gemeinden in unserer Datenbank. Zudem überwachen wir die Websites all dieser Gemeinden tagtäglich auf Keywords. So wissen wir genau, was sich in der Baureglementslandschaft gerade verändert. 

Bei der Potenzialanalyse bleibt es aber nicht, Sie bieten auch Folgeangebote an?
Korrekt. Der Potenzialrechner ist für uns ein Aufklärungswerkzeug und Türöffner. Wir wollen ja «Verdichtung» populär machen. Dazu gehört auch, dass wir möglichst viele Verdichtungsprojekte umsetzen können. Wir verstehen uns als neuartiger, technologiegetriebener Immobilienentwickler, der neue Wege geht, anders auftritt und partnerschaftlich mit Eigentümern Projekte realisiert. Wir sind keine Immo-Haifische, sondern Immobilien-Nemos.

 

«Wir wollen praktikable Lösungen mittels Kooperation und Dialog schaffen.»

Gilt das Angebot nur für Private, die ein Einfamilienhaus besitzen und wissen möchten, was für ein Ersatz-Neubau möglich wäre, oder auch für institutionelle Anleger, die mit Ihnen ein Projekt entwickeln möchten?
Wir sind offen für alle und realisieren Projekte mit ganz unterschiedlichen Eigentümern. Vom klassischen freistehenden EFH, wo uns die Eigentümerschaft die Liegenschaft verkauft, wir sechs neue Wohneinheiten entwickeln und sich das Eigentümerpaar eine Einheit sichert, bis zum professionellen Investor, mit dem wir 52 Einheiten entwickeln.

Wo sehen Sie das grösste Potenzial, sprich wen möchten Sie am ehesten ansprechen?
Wir haben in der Schweiz aktuell rund 2,6 Millionen Gebäude, davon sind etwa 1,8 Millionen mit Wohnnutzung. Rund 67 Prozent aller Gebäude mit Wohnnutzung sind im Besitz von Privatpersonen. Und hier sehen wir zwei Zielgruppen: Zum einen sind das die rund 350´000 Babyboomer-EFH (Personen zwischen 55 und 74 Jahre), die in den nächsten Jahren freiwerden. Das sind rund 42 Prozent aller EFH. Dazu kommen die 14 Prozent der Eigentümer, die älter als 75 Jahre sind (Silent Generation). Da steckt viel Potenzial drin, «versteckte MFH» zu realisieren.

Und zum anderen?
Da sehen wir all die (halb-)professionellen privaten Eigentümer, die mehrere Renditeliegenschaften besitzen – meist ein Portfolio von Gebäuden aus den 1970er- und 1980er-Jahren, die heute das Ende ihres Lebenszyklus erreicht haben. Diese Häuser wurden oftmals regelrecht «gemolken»; in den letzten Jahren wurde nur noch das Notwendigste gemacht. Da sind jetzt neue Ideen gefragt, um solche Immobilien zu repositionieren bzw. wieder «fit» zu machen für die nächsten 50 Jahre.

Text: Stephan Ziegler

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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