Thurgau

Auf die eigenen vier Wände wird zuletzt verzichtet

Auf die eigenen vier Wände wird zuletzt verzichtet
Reto Inauen
Lesezeit: 5 Minuten

Trotz Krisen haben 2022 so viele Kunden wie noch nie den Thurgauer Raiffeisenbanken ihr Geld anvertraut – erstmals überstieg die konsolidierte Bilanzsumme die Marke von 17 Milliarden Franken. Verbandspräsident Reto Inauen über steigende Zinsen, fallende Preise und den Spagat zwischen Retail- und Anlagengeschäft.

Reto Inauen, die Thurgauer Raiffeisenbanken haben 2022 erneut ein ausgezeichnetes Ergebnis erzielt. Worauf sind Sie besonders stolz?
Auf das grosse Vertrauen, das wir im ganzen Kanton spüren. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die Thurgauer Raiffeisenfamilie im ersten Halbjahr 2023 um weitere 700 Mitglieder gewachsen ist. Gleichzeitig kommt das entgegengebrachte Vertrauen zum Ausdruck, indem immer mehr Beratungen rund um Anlagen, Vorsorge und Firmennachfolgen in Anspruch genommen werden.

Gewachsen sind 2022 insbesondere die Hypothekarausleihungen, sie stiegen um eine halbe Milliarde auf knapp 14 Milliarden. Wenn Sie auf die aktuellen Zinssätze schauen, geht das heuer kaum so weiter, oder?
Die Zinserhöhungen haben die Nachfrage nach Wohneigentum auch im Thurgau leicht gedrückt. Der Aufwärtstrend bei den Immobilienpreisen wird sich somit eher abschwächen. Nächstes Jahr können wir uns deshalb sogar leichte Preisrückgänge beim Wohneigentum vorstellen. Eine starke Korrektur erscheint uns wegen der Knappheit an Wohnraum jedoch unwahrscheinlich. Die Raiffeisenbanken im Thurgau sind im Hypothekargeschäft in den vergangenen Jahren ungefähr auf Marktniveau gewachsen. Das bleibt auch weiterhin das Ziel.

Das macht Ihnen also keine Sorgen?
Nein. Erstens, weil wir bei der Kreditvergabe mit einem kalkulatorischen Zinssatz von fünf Prozent rechnen. Von solchen Zinsen sind wir noch weit entfernt. Zweitens, weil die überwiegende Mehrheit unserer Hypothekarkunden langfristige Festhypotheken abgeschlossen hat. Dort ist der beim Abschluss fixierte Zinssatz weiterhin gültig. Was wir spüren, ist ein erhöhter Beratungsbedarf, gerade bei Kunden, bei denen wichtige Entscheide wie die Erstaufnahme oder die Verlängerung einer Hypothek anstehen. Hier unterstützen wir mit einer differenzierten Beratung – abgestimmt auf das persönliche Sicherheitsbedürfnis, die finanziellen Verhältnisse und die Pläne der Kunden.

 

  

«Die Zinserhöhungen haben die Nachfrage nach Wohneigentum leicht gedrückt.»

Apropos Sorgen: Gehen Sie davon aus, dass unter den 14 Milliarden Hypothekarforderungen auch der eine oder andere Abschreiber zu finden ist – die hohen Zinssätze dürften etliche Hausbesitzer ans Limit bringen?
Das ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Die Raiffeisenbanken verfolgen eine vorsichtige Kreditvergabepolitik. Die Tragbarkeitsregel sorgt dafür, dass die Eigenheimbesitzer ihre Zinszahlungen auch bei deutlich höherem Zinsniveau tragen können. Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Der Eigenheimerwerb ist hierzulande meist nicht ein finanzieller, sondern ein emotionaler Entscheid – die Erfüllung des Traums vom Eigenheim ist für viele von uns auch mit mehr Gestaltungsfreiheit und Geborgenheit für die Familie verbunden. Man schnallt den Gürtel deshalb eher anderswo enger, als dass man auf die eigenen vier Wände verzichtet.

Gleichzeitig dürften Ihnen die hohen Zinsen Freude bereiten; die Thurgauer Raiffeisenbanken leben hauptsächlich vom Zinsgeschäft, oder?
Da haben Sie recht, das Zinsengeschäft ist und bleibt unser Kerngeschäft. Wir möchten aber die Abhängigkeit vom Zinsdifferenzgeschäft reduzieren. Die Diversifikation der Erträge und die Stärkung unseres Vorsorge- und Anlagegeschäfts ist ein zentraler Bestandteil unserer Strategie. Der Erfolg in den Geschäftszahlen bestätigt den eingeschlagenen Weg. Raiffeisen ist heute auch eine Anlagebank.

Also sind die Weichen richtig gestellt.
Ja, wir entwickeln uns auf dem starken Fundament weiter und konzentrieren uns auf das, was wir gut können. Ziel ist es, die Kundennähe digital und vor Ort weiter auszubauen, die digitalen Services zu stärken und insbesondere im Vorsorge- und Anlagegeschäft weiter zu wachsen.

 

Die Differenz zwischen Kundenausleihungen und Hypothekarforderungen beträgt «nur» rund 500 Millionen Franken; heisst das, dass die Raiffeisenbanken kaum Kredite an KMU gewährt?
Den grössten Teil des Firmenkreditbuchs machen Finanzierungen von Gewerbeliegenschaften aus, die somit ebenfalls unter die Hypothekarforderung fallen. Selbstverständlich vergeben wir auch Investitionskredite, sind dort aber in Bezug auf die Höhe und das Risiko eher zurückhaltend. Der grosse Vorteil von Raiffeisen im Firmenkundenbereich ist, dass die einzelnen Genossenschaften lokal verankert sind und selbst zu den KMU gehören. Dank Raiffeisen Schweiz können die einzelnen Banken dennoch auf ein nationales Kompetenzzentrum zurückgreifen und dadurch Dienstleistungen anbieten, die sonst auf regionaler Basis kaum möglich wären.

Sie wollen sich also auch als Bank fürs Gewerbe positionieren – oder sind Ihnen Privatkunden lieber, die Ihnen ihr Vermögen zur Verwaltung anvertrauen?
Wir sind eine Bank für alle. Schweizweit ist heute fast die Hälfte der Bevölkerung und jedes dritte KMU Kunde von Raiffeisen. Wir wollen sowohl für Privat- als auch Firmenkunden eine langfristige Partnerin in allen finanziellen Belangen sein und passende Lösungen bieten. Das gelingt uns dank unserer Kundennähe.

Passt das Anlagegeschäft überhaupt zu einer Retailbank?
Ja, natürlich! Wir setzen auf einfache, verständliche und auf die Bedürfnisse unserer Kunden ausgerichtete Lösungen, die bereits für kleine Vermögen verfügbar sind. Wir haben in den vergangenen Jahren viel in die Erweiterung unserer Kompetenz im Anlagegeschäft investiert und unser Produkt- und Serviceangebot ausgebaut: 2020 haben wir etwa unsere digitale Vermögensverwaltung Raiffeisen Rio lanciert, 2021 eine digitale Säule 3a-Lösung in unser E-Banking integriert und 2022 die Produktpalette mit nachhaltigen indexnahen Fonds erweitert. Zudem haben wir konsequent die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in unsere Vorsorge- und Anlagelösungen vorangetrieben. Heute sind rund 95 Prozent des Raiffeisen-Fondsvolumens nachhaltig investiert. Damit gehören wir zu den Vorreitern in der Branche.

 

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«Schweizweit ist heute fast die Hälfte der Bevölkerung und jedes dritte KMU Kunde von Raiffeisen.»

Gut, aber der Spagat ist ziemlich gross; beherrschen ihn Ihre Leute?
Ja, denn wir haben viel in die Beratung investiert. Uns ist es wichtig, bei den Kunden ein grundlegendes Themenverständnis sicherzustellen, damit Entscheidungen gemeinsam und mit einem guten Gefühl getroffen werden können. 

Die Kundennähe ist ein herausragendes Merkmal von Raiffeisen, gerade im Thurgau. Wie stellen Sie diesen Vorteil auch in Zukunft sicher?
Sie hilft uns auch, die Kundenbedürfnisse zu verstehen: So sehen wir, dass Kunden bei einfacheren Bankgeschäften verstärkt digitale Lösungen nachfragen. Sobald es jedoch komplexer wird und mehr Geld im Spiel ist, wünschen sich viele weiterhin eine persönliche Beratung – beispielsweise bei der Verwaltung grösserer Vermögen, der Anschaffung eines Eigenheims oder dem Aufbau eines KMU. Bis 2025 werden alle unsere digitalen Services in einer App gebündelt. Gleichzeitig bauen wir auch unsere Beratungskapazität weiter aus. Das bedeutet: Bei Raiffeisen wird man sich auch in Zukunft nicht zwischen einer digitalen App und der persönlichen Beratung entscheiden müssen. Die Kunden sollen wählen können, wann und für welche Leistung sie wie mit uns interagieren wollen; der Übergang zwischen physisch und digital wird jederzeit unkompliziert möglich sein.

Text: Stephan Ziegler

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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