«Wir müssen die Berufslehre noch mehr stärken»

«Wir hatten Glück», sagt Marianne Raschle. «Wir haben auch für dieses Jahr einen neuen Lehrling für den Beruf des Zimmermanns gefunden.» Allerdings, betont die Geschäftsführerin der Raschle Holzbau AG in Kreuzlingen, sei die Suche dieses Mal schwieriger und die Auswahl reduzierter gewesen. Deshalb hätten sie in diesem Sommer auch nur einen Lehrling eingestellt. Vor ein paar Jahren bekam das traditionsreiche Holzbauunternehmen am Bodensee noch mehr Bewerbungen und Anfragen, und es konnte seine bis zu drei Ausbildungsplätze zum Zimmermann oder zur Zimmerfrau jedes Jahr problemlos besetzen. Auch für die Schreinerlehre fand man regelmässig gute Lehrlinge. Das sei heute anders, habe aber nicht in erster Linie mit der Branche zu tun. «Die Berufslehre im Allgemeinen hat keinen so hohen Stellenwert», sagt Marianne Raschle, die das Unternehmen zusammen mit ihrem Mann Elmar führt.
Das spürt die Firma vor allem an ihrem Standort in Kreuzlingen, wo ein Viertel der ausländischen Bevölkerung aus Deutschland kommt. «Bei den Deutschen ist unser duales Bildungssystem wenig bekannt, und für sie ist eine Berufslehre oft weniger wert als eine weiterführende Schule.» Doch auch in der Schweiz leide das Image der Berufslehre nach wie vor, insbesondere jenes der handwerklichen Ausbildungen. «Viele junge Leute wollen heute nicht mehr auf dem Bau oder in einer Metzgerei arbeiten, weil ihnen diese Tätigkeiten körperlich zu anstrengend sind und sie diese zudem für minderwertig halten», sagt Marianne Raschle. «Doch wir brauchen die Fachkräfte, sonst kann die Wirtschaft nicht funktionieren.» Die Bemühungen von Politik und Wirtschaft in den vergangenen Jahren, das Ansehen der Berufslehre zu verbessern, hätten sicherlich einiges gebracht. «Aber wir müssen die Berufslehre noch mehr stärken.»
«Wir müssen nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch den Eltern noch mehr erklären.»
Mit den Schulen und den Eltern
Ein wichtiger Partner in diesem Zusammenhang sind für die Unternehmerin die Schulen. «Mit guten und umfassenden Informationen können die Lehrpersonen viel dazu beitragen, dass sich Schüler für eine Berufslehre entscheiden.» In Kreuzlingen beispielsweise haben Primar- und Oberstufe zusammen mit dem örtlichen Gewerbe vor acht Jahren die Betriebstage ins Leben gerufen. Dabei können Kinder und Jugendliche zusammen mit ihren Eltern an einem Tag im November ein Unternehmen ihrer Wahl besichtigen und dessen Berufe besser kennenlernen. Auch die Raschle Holzbau AG macht bei diesen Betriebstagen mit. Das Familienunternehmen ist seit über 35 Jahren in der Holzbaubranche tätig und beschäftigt heute insgesamt 26 Mitarbeiter, darunter mehrere Lehrlinge. Zurzeit ist das Geschäftsführer-Ehepaar gerade damit beschäftigt, die Übergabe an Sohn Silvan vorzubereiten.
«Der gemeinsame Anlass der Schulen und des hiesigen Gewerbes hat sich sehr bewährt. Wir dürfen jedes Jahr vier bis sechs interessierte Mädchen und Buben samt Eltern durch unseren Betrieb führen», sagt Marianne Raschle mit Betonung auf «Eltern». Gerade sie seien wichtige Ansprechpersonen, wenn es um die Berufswahl der Kinder gehe. «Wir müssen nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch den Eltern noch mehr erklären und bewusst machen, dass die Berufslehre eine fundierte Ausbildung ist und die Perspektiven und der Lohn mit Berufsmaturität und Fachhochschule sehr gut sind.»
Einer der Lehrlinge der Raschle Holzbau AG ist Vincent Dold. Der junge Mann will Zimmermann werden und befindet sich im dritten Lehrjahr. Für diesen Beruf hat er sich entschieden, weil er es mag, mit dem «natürlichen Baustoff Holz und den grossen Maschinen» zu arbeiten. «Zudem bin ich sehr gerne draussen», sagt der Lehrling. Er ist, wie seine Chefin, überzeugt, dass die Lehrer an der Oberstufe einen grossen Einfluss haben, ob sich die Schüler für eine Berufslehre entscheiden. «Die Vorteile einer Berufslehre sollten dort noch stärker hervorgehoben und gewertet werden», sagt Vincent Dold.
Auch interessant
«Die Vorteile einer Berufslehre sollten noch stärker hervorgehoben werden.»
Attraktiver durch fairere Finanzierung?
Die Matura bleibt jedoch eine Konkurrenz zur Berufslehre, obwohl die gymnasiale Maturitätsquote im Kanton Thurgau mit gut 15 Prozent im Vergleich zum Schweizer Mittelwert von 22 Prozent relativ tief ist. Trotzdem sollten die beiden Ausbildungswege nicht gegeneinander ausgespielt werden, sagt Marianne Raschle. «Eine Quote nur um der Quote willen zu erhöhen, finde ich falsch. In ländlichen Kantonen, wie wir einer sind, ist die gymnasiale Maturitätsquote eher tief. Das sollte akzeptiert werden. Schliesslich kann jeder oder jede später auch mit einer Berufsmaturität noch ein Studium absolvieren.»
Für die Unternehmerin müsste sich auch bei der Finanzierung etwas ändern, damit die Lehre attraktiver wird. «Die meisten beruflichen Weiterbildungen müssen aus der eigenen Tasche bezahlt werden, ein Studium hingegen wird einem finanziert. Das ist unfair.» Die Unternehmerin findet, dass in diesem Zusammenhang eine Art Rückvergütung stattfinden sollte. So wie es unter anderem in der «Neuen Zürcher Zeitung» diskutiert wurde*. Im Grossen und Ganzen fielen Studenten der Öffentlichkeit dann zur Last, wenn sie nur kleine Pensen hätten, lautet ein Vorschlag. Nachgelagerte Studiengebühren könnten für einen fairen Ausgleich sorgen.
Für Marianne Raschle wäre auch eine Möglichkeit, dass alle, die eine tertiäre Ausbildung absolvieren, die von ihnen beanspruchten Ausbildungskosten durch ihre höheren Verdienstmöglichkeiten mindestens anteilmässig an die Ausbildung zurückgeben.