«Fördert Talente, nicht Karriereausichten!»

«Fördert Talente, nicht Karriereausichten!»
Dr. Ulrike Landfester
Lesezeit: 8 Minuten

Akademische Grundausbildungen würden sozial überbewertet, sagt HSG-Professorin Ulrike Landfester. Wenn Jugendliche erfolgreich werden wollen, sollten sie eine Ausbildung wählen, die ihren Talenten entspricht.

Ulrike Landfester, die Schweiz schafft jährlich neue Arbeitsplätze, aber immer weniger junge Leute kommen in den Arbeitsmarkt. Die Schweiz hat zu wenige Berufsleute, aber auch zu wenige Akademiker. Landet der Nachwuchs in den richtigen Ausbildungen?
Das kommt darauf an, wie man «richtig» definiert.

Definieren Sie es.
Es gibt viele junge Leute, die von ihren Eltern ermutigt werden zu studieren. Weil sie immer noch das Gefühl haben, ein Studium sei notwendig, um Karriere zu machen. Das ist ein Modell aus dem 20. Jahrhundert, aber diese Mentalität gibt es nach wie vor. 

Gehen also die falschen Leute an die Universität?
Es geht nicht um falsche Leute, sondern um falsche Ausbildungstypen. Eine Bildungsinstitution sollte in der Lage sein, rechtzeitig Leute, denen der akademische Ausbildungstyp nicht wirklich liegt, darauf aufmerksam zu machen, dass sie anderswo vielleicht glücklicher wären.

Wie wollen Sie das filtern?
Für mich ist nicht das Kriterium, ob jemand die ganz schillernde Persönlichkeit wird oder gar der nächste Einstein. Ich finde es extrem wichtig, dass jemand dank der gewählten Ausbildung einen Ort findet, wo er oder sie wirklich mit sich und der Welt zufrieden ist und Freude daran hat, an ihr mit­zugestalten.

Sind das die Studierenden nicht?
Aus meiner Erfahrung im Umgang mit Studierenden, besonders mit jenen in den frühen Semestern, wage ich zu behaupten, dass viele besser beraten wären, wenn sie sich zunächst mal auf das Praktische konzentrieren würden.

Also eine Lehre machen?
Zum Beispiel. Sie können ja später immer noch eine Weiter­bildung wie etwa einen MBA machen, und damit sozusagen akademisches Cachet erlangen.

Das würde das Wachstum der HSG bremsen. Will man das?
An der HSG sind wir in einer besonderen Situation, weil wir als Universität ohnehin vergleichsweise praxisnah sind. Für uns ist es nicht immer ganz einfach, unsere Identität im Spannungsfeld zwischen Akademia und Praxis zu definieren. Wir haben als Universität sowohl Spielraum für die mehr praktisch Begabten als auch für die mehr akademisch Begabten. Das ist eine Besonderheit unserer Uni.

Andere Universitäten haben mehr «falsche» Studierende?
Nehmen wir mal meine Stammdisziplin: Die Erfahrung zeigt, dass viele Leute Germanistik studieren, weil ihnen nichts anderes einfällt. Bücher lesen, meinen sie, kann schliesslich jeder. Auf diesem Weg können sie am Ende des Tages dennoch einen akademischen Titel mit nach Hause nehmen.

Die Kritik, dass zu viele Geisteswissenschaftler ausgebildet werden, hört man immer wieder.
Ganz so einfach ist das nicht. Das Glas ist da sowohl halb voll als auch halb leer. Geisteswissenschaftler sind aufgrund des enormen Arbeitsmarktdrucks extrem beweglich, die kann man fast überall hinsetzen. Nach einer Zeit des Eingewöhnens können sie in fast jedem beruflichen Umfeld die Probleme lösen, die es zu lösen gibt. Es gibt aber auch viele, denen es besser getan hätte, eine Lehre zu machen.

  

Der Kanton St.Gallen möchte die im Schweizer Vergleich tiefe Matura-Quote leicht anheben.
Wir wollen mehr qualifizierte Leute in allen Bereichen und haben weniger Jugendliche, die sich für eine nichtakademische Ausbildung entscheiden wollen oder können. Diesen Widerspruch bekommen wir nicht mit Matura-Quoten unter Kontrolle. Und auch ganz sicher nicht dadurch, dass man Berufe, die das eigentlich weder brauchen noch auf Dauer vertragen, flächendeckend akademisiert. Pflegeberufe zum Beispiel, Kindergärtnerinnen und -gärtner, oder das Inge­nieurwesen, auch wenn die ETH da sicher eine Ausnahme darstellt. Theorie kann man auch in nichtakademischen Ausbildungen unterbringen, das ist einfach eine Frage des Augenmasses. Diese Akademisierung ist der direkte Effekt der Überbewertung akademischer Grundausbildungen.

Überbewertung?
Wenn wir in der Akademia über Doktorate und Höheres reden, das ist etwas anderes. Aber ja, die Grundausbildung bis zum Master wird in mancher Hinsicht überbewertet. Noch immer herrscht die Grundhaltung vor, ein Studium sei karrierefördernder als andere Grundausbildungen. Wir müssen eine öffentliche Diskussion darüber anstossen, ob das heute eigentlich noch so stimmt – was ich persönlich eben nicht glaube. Das grösste Kapital unseres dualen Bildungssystems sind die unterschiedlichen Ausbildungstypen, die es anbietet, und die muss man gezielt profilieren und dehierarchisieren. Wenn ich auf den Arbeitsmarkt und auf die Gewerbler und Unternehmer in meinem Umfeld blicke, muss ich sagen: Da sind die Karriere-Chancen – und die Chancen zur Zufriedenheit – mindestens so gross wie bei uns Schreibtischtätern.

Wo muss man denn ansetzen?
Im Grunde müsste man den Eltern sagen: Fördert Talente und nicht vermeintliche Karriereaussichten! Das ist schwierig, weil Eltern selbstverständlich das Beste für ihre Kinder ­wollen. Es muss ins gesellschaftliche Bewusstsein eindringen: Man sollte die Erziehung eines Kindes nicht primär darauf ausrichten, dass es irgendwann möglichst viel Geld verdient. Ich frage Leute, die überlegen, in welche Richtung sie sich entwickeln sollen: Was macht dir Spass, was tut dir gut? Als Ausbildungsperson ermutige sie, ihrem Instinkt zu folgen und nicht nur an die maximalen Einstiegsgehälter bei einer Grossbank zu denken.

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«Das Geschwätz von unnützen Akademikern ist genauso unangebracht wie das Heruntermachen von Berufsausbildungen.»

Es braucht also mehr Aufklärung.
Der eigentliche Auftrag der Akademia ist, den explorativen Gebrauch von Rationalität gesellschaftlich vermittelbar zu machen. Das bedeutet: Du denkst aus Neugierde, und nicht, weil du zu einem bestimmten Ziel kommen willst. Das ist ein Ausbildungstyp, der nicht zwingend jedem liegt, was aber eben auch heisst, dass es nicht für jeden der Beste ist.

Versteht die Gesellschaft das nicht mehr?
Die Darstellbarkeit der Institution Universität nach aussen hat gelitten. Wir Akademiker können oft nicht mehr klar sagen, was wir machen und wozu wir beitragen. Das halte ich für eine Katastrophe. Wir haben den Kontakt zur gesellschaftlichen Praxis verloren. Dieser Kontakt müsste seitens der Akademia neu aufgesetzt werden. Ein schwieriges Feld. Aber es wäre ganz dringend notwendig.

Zumindest hält sich die Vorstellung, via Universität in einem guten Leben zu landen.
Vor 50 Jahren noch war klar, Arbeiter sind Leute, die politisch links sind und meistens dreckige Hände haben. Diese Sorte gesellschaftlicher Klischees bleiben kleben, deshalb hat sich die Überzeugung gehalten, dass wer studiert hat, a priori kultivierter und sozial mobiler ist. Das ist heutzutage aber nicht mehr so. Es braucht definitiv Anstrengungen, diesen Wandel sichtbar zu machen.

«Wenn man einen Beruf aufwertet, indem man ihn gut bezahlt, wertet man auch sein Image auf.»

Der Erfolg der Universität St.Gallen zeugt nicht von einem Wandel in der Wahrnehmung. Jedes Jahr wollen mehr junge Leute hier studieren.
Viele der Maturanden, die an unsere Uni kommen, kommen nicht in erster Linie, um eines Tages an die Akademia zu gehen, oder auch nur aus intrinsischem Interesse an der Wirtschaft, sondern weil sie sich von einem Wirtschaftsstudium gute Berufschancen erhoffen. Es ist gar nicht unbedingt die HSG, die für dieses Wachstum verantwortlich ist, es ist die globale Bedeutung der Wirtschaft insgesamt. Egal, was aus dir wird, wenn du aus der Wirtschaftsuniversität kommst, hast Du irgendetwas verstanden, was dir weiterhilft. Das kann man weiss Gott nicht von allen Disziplinen sagen. Wir bedienen eine globale, überall verbreitete Kulturtechnik. Und wir bedienen sie erst noch spezialisiert.

Wer aus der HSG rauskommt, ist nützlich?
Man versteht zumindest einigermassen, wie die Welt funktioniert. Heute würde ich sagen: Es würde jedem Geisteswissenschaftler guttun, ein Grundstudium in Wirtschaftswissenschaften abzulegen.

Wie brächte man Leute, die irgendein Studium beginnen, dazu, auch andere spannende Dinge anzuschauen?
Das ist etwas, was wir an der HSG seit unserer Gründung versuchen, indem wir die Studierenden dazu verpflichten, auch Veranstaltungen aus fachfremden Fächern zu absolvieren. Die disziplinäre Überspezialisierung ist eine der problematischsten Seiten der Akademia, und wir versuchen, das mit einem ganzheitlichen Ausbildungsmodell zu kompensieren. Erfreulicherweise funktioniert das auch – meistens zumindest. Da kommen dann oft Interessen und Talente zutage, die auch nach dem Studium lebendig bleiben.

 

Hat ein Kind nicht ohnehin bessere Karriereaussichten, wenn es etwas macht, bei dem seine Talente zum Tragen kommen?
Ja, man muss auch mögen, was man macht, sonst wird man nicht wirklich gut darin. Wenn man in etwas talentiert ist, dann wird man in diesem Gebiet eines Tages richtig gut sein. Wenn man nicht talentiert ist, schafft man es bis zum Durchschnitt. Höchstleistungen erbringt man nur, wenn man etwas wirklich gerne macht. Sonst macht es einen kaputt auf die Dauer.

Dennoch hört man schon in der Grundschule, dass die Gescheiten dann mal ans Gymnasium gehen.
Grundschule heisst Grundschule, weil sie die fundamentalen Wissensbestände vermittelt, die du brauchst – egal, was du machst. Du musst zählen, lesen, schreiben und heute vielleicht auch iPads bedienen können. Im Idealfall wäre es so, dass in der Oberstufe dann das Talent-Scouting stattfindet: Was ist dein Weg, was können wir darüber schon herausfinden? Das würde ein intensives Mentoring in der Schule bedingen, und man müsste die Eltern ins Boot holen. Sie müssten akzeptieren, was der beste Weg für ihren Sprössling ist. Meine Erfahrung ist aber: Eltern sind enorm kompetitiv, wenn es um ihre Kinder geht. Immerhin: Wenn die Erkenntnis erst später kommt, ermöglicht das durchlässige Bildungssystem der Schweiz immer noch Richtungswechsel in der Ausbildung. Unser Bildungssystem ist grundsätzlich total super. Die Durchlässigkeit hat ihre Vorteile, sie ist aber auch eine Sollbruchstelle. Denn wenn etwas durchlässig ist, fängt die durchlässige Membran irgendwann an, zu erodieren. Und das ist ein Effekt, den wir im Moment sehen. Das war ja eine historische Entwicklung: Wir hatten auf der einen Seite die Berufsbildung, auf der anderen die akademische Bildung, und es kam die Idee auf, das ein bisschen durchlässiger zu gestalten. Dann wurde es ein bisschen mehr, und heute sagen die Fachhochschulen, sie wollen promovieren. Statt durchlässiger Grenzen bekommen wir eine Grauzone.

Sie sind gegen die Verwischung der Hierarchien?
Das Bildungssystem muss abgesichert werden durch ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein, dass es hier eben nicht um eine Hierarchisierung von unterschiedlichen Ausbildungstypen geht: da die Leute mit den dreckigen Händen, da die Akademiker mit den tollen Gehältern. Das stimmt so nicht! Aber wir müssen uns überlegen, wohin genau die Entwicklung eigentlich gehen soll. Was ist der Nutzen, auf den wir mit diesem System hinwirken wollen? Das ist ein ­Prozess, den man nicht auf dem Reissbrett entwerfen kann.

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Führt die Durchlässigkeit zur Akademisierung der ­Berufsbildung?
Das kann man so sagen. Das zeigt sich wie erwähnt in der Akademisierung der Pflegeberufe. Was ich wirklich ein Desaster finde. Aber das hat ganz viel mit dem gesellschaftlichen Image zu tun. Wenn sich Leute eine Ausbildung aussuchen, tun sie das nach dem Schulabschluss nicht nur aufgrund ihrer Erfahrungen und Talente, sondern schauen auch auf das Image, das ein Job hat. Hier muss man ansetzen, bei den sogenannten Branding Narratives von Berufsausbildungen.

Nicht erst seit dem Fachkräftemangel versucht die Wirtschaft, Berufe möglichst attraktiv darzustellen.
Tatsächlich wird auch schon viel getan. Ich sehe mit Aufmerksamkeit und Freude, dass Jugendlichen verschiedenste Einblicke in Berufswelten geboten werden. Wir müssen aber das Image auf beiden Seiten aufpolieren. Ich werde jedes Mal stinksauer, wenn jemand sagt, Akademiker seien ein überflüssiges Volk.

Müssen sich Akademiker rechtfertigen?
Wir sind nur dann überflüssig, wenn wir nicht in der Lage sind, zu definieren, was wir gesellschaftlich beitragen. Wenn wir das definieren können, dann können wir auch sichtbar machen, dass wir in der Tat nützlich sind. Das Geschwätz von unnützen Akademikern ist genauso unangebracht wie das Heruntermachen von Berufsausbildungen, weil die angeblich proletarisch sind. Das sind ganz alte Kategorien, das erinnert an den Gewerkschaftsdiskurs der Sechziger- und Siebzigerjahre.

«Da sind die Karriere-Chancen mindestens so gross wie bei uns Schreibtischtätern. »

Das Image von Berufen zu korrigieren, hat auch mit den jeweiligen Salären zu tun.
Über Lohnungleichheiten könnten wir ein separates Gespräch führen… Klar muss man Pflegepersonen besser bezahlen, und zwar dringend. Ohne die wäre während der Pandemie das gesamte System zusammengebrochen. Wenn man einen Beruf aufwertet, indem man ihn gut bezahlt, wertet man auch sein Image auf. Pflegeberufe operieren noch stark mit einem altruistischen Image: Du hilfst jemandem, du bist ein guter Mensch. Aber davon kann man keine Miete bezahlen.

Trägt denn die Akademisierung eines Berufs nicht auch zu einem höheren Image bei?
Bei «Akademisierung» müssen wir zwei Dinge voneinander trennen. Akademisierung hat ihre Berechtigung, wo es darum geht, neugierig zu denken, selbstreflexiv zu denken. Das ist für mich der Kern von Akademisierung. Aber: Akademisierung muss abgeschieden werden vom Image einer sozial erhabenen Ausbildung. Das ist nicht dasselbe. Innovativ denken kann jeder, wenn man es ihm beibringt. Aber was die akademische Ausbildung lange Zeit gehypt hat und was jetzt immer mehr zu Hypothek wird, ist das Image, dass eine akademische Ausbildung etwas ganz Besonderes wäre. Dabei ist sie faktisch allenfalls ein Ausdruck von Privilegiertheit.

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