Ostschweiz

«Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag»

«Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag»
Die börsengetriebene Wirtschaftswelt hat uns an die planetaren Grenzen gebracht. Nun braucht es einen neuen Gesellschaftsvertrag
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Das Loch in der Rentenkasse, der Graben zwischen Arm und Reich und ein ausgebeuteter Planet, der tief in der Krise steckt: Das sind die Sorgen der Schweizer. Die Lösung ist radikal: Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, der sich einer immer schneller verändernden Gesellschaft anpasst, der auf demografische, politische und wirtschaftliche Umwälzungen reagiert.

Es ist das 17. Jahrhundert, das die Welt prägen wird wie keine andere Zeit danach. Während Isaac Newton den Grundstein legt für die klassische Mechanik und in Amsterdam die erste Aktiengesellschaft der Welt eröffnet, arbeitet der Moralphilosoph Adam Smith am Fundament für die klassische Nationalökonomie. Das technokratische Denken in Ursache und Wirkung und das Vertrauen auf sich selbst regulierende Märkte werden zum Paradigma, während die Überwindung der Knappheit dank fortschreitender Technologie das Verlangen nach einem steten Wirtschaftswachstum anfeuert.

Und dieser Wirtschaftserfolg will gemessen sein! Der britische Ökonom William Petty schafft mit der «politischen Arithmetik» im Jahr 1676 ein erstes System, das in den 1930er-Jahren, während der Weltwirtschaftskrise, vom US-amerikanischen Ökonomen Simon Smith Kuznets verfeinert wird. Bis heute hat es Bestand: Als Bruttoinlandprodukt (BIP) wird damit die Wirtschaftsleistung eines Landes beziffert.

BIP, ein falscher Indikator für Wohlstand
Doch das BIP ist bis heute unvollständig geblieben. «Wenn wir Benzin oder Heizöl verbrennen und die Atmosphäre als CO2-Senke nutzen, müssen wir für diese ‹Umweltleistung› nichts bezahlen», sagt Elisabeth Ziegler-Hasiba, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Anderes Beispiel: Wenn der Graben zwischen Arm und Reich stetig grösser werde und dies für die betroffenen Menschen gesundheitliche Folgen habe, sei dies für das BIP sogar positiv. Und auch die AHV habe ein Systemproblem, weil sie nicht antizipiere, dass die Bevölkerung älter werde, was zu einem Loch in der Rentenkasse führe.

«Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der sich einer immer schneller verändernden Gesellschaft anpasst», ist Makroökonomin Ziegler-Hasiba überzeugt, «und die Wirtschaftswissenschaften müssen dabei eine entscheidende Rolle spielen.»

Turbowachstum auf Kosten der Umwelt
Mit dem neuen Curriculum, dem neuen Lehrgang, will die OST – Ostschweizer Fachhochschule ihren Beitrag dazu leisten. «Wir schauen uns im Unterricht beispielsweise an, wie sich das BIP seit den letzten tausend Jahren entwickelt hat», sagt OST-Professorin Elisabeth Ziegler-Hasiba.

«Wir werden feststellen, dass sich das BIP in den ersten 800 Jahren nicht gross veränderte. Erst ab dem Jahr 1700 stieg es exponentiell an. Auf der Grafik sieht die Kurve aus wie ein ‹Hockey Stick›, weil die Wachstumsrate plötzlich steil nach oben geht.»

Der grosse, exponentielle Anstieg, dem der Mythos vom unabdingbaren BIP-Wachstums zugrunde liegt, sei aber erst ab den 1950er-Jahren zu beobachten, als der Neoliberalismus der Chicagoer Schule um Milton Friedman die Wirtschaftswissenschaften dominierte. Seither scheint der Mythos Gesetz zu sein.

Planetare Grenzen mitberücksichtigen
Das Problem: Wenn unsere Wirtschaftsleitung bis 2050 um drei Prozent pro Jahr wächst, wird sich die Grösse der Weltwirtschaft mindestens verdoppeln. Das bedeutet aber auch eine deutlich höhere Belastung für Ressourcen und Umwelt.

Für einen neuen Gesellschaftsvertrag brauche es deshalb neue Wirtschaftsmodelle. Als Beispiel zitiert Elisabeth Ziegler-Hasiba die «Donut-Ökonomie» der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth.

Das Modell geht von einer Reihe planetarer und sozialer Grenzen aus. Zu den planetaren Grenzen zählen beispielsweise die Klimaerhitzung und der Verlust der Artenvielfalt, zu den sozialen Grenzen zählen Bereiche wie Gesundheit und Bildung. Die als Donut visualisierten Grenzen verstehe Raworth als alternative Zielvorgabe anstelle des BIP-Wachstums der traditionellen Wirtschaft. Ein anderes Modell beschäftige sich mit der Kreislaufwirtschaft.

«Das ist keine Utopie», sagt Ziegler-Hasiba. Mit dem Donut-Modell sammle die Stadtverwaltung von Amsterdam bereits seit drei Jahren Erfahrungen. Und die Schweiz verfolge bereits seit Mitte der 1980er-Jahre Ansätze hin zu einer Kreislaufwirtschaft.

Bedingungsloses Grundeinkommen als mögliche Lösung
Der Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert müsse neben der Nachhaltigkeit im ökologischen Sinne auch die soziale Dimension mitberücksichtigen.

OST-Professorin Elisabeth Ziegler-Hasiba verweist auf das kürzlich erschienene Buch «Was wir einander schulden» von Minouche Shafik, Direktorin der renommierten London School of Economics and Political Science. «Wir müssen über ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutieren, über einen Bildungsanspruch für alle, über eine grundlegende Gesundheitsversorgung», sagt Ziegler-Hasiba.

Der Gesellschaftsvertrag, diese «Übereinkunft zwischen den Generationen», sei eine Abkehr vom technokratischen Denken des 17. Jahrhundert hin zu einem kybernetischen, das die Komplexität und die planetaren Grenzen mitberücksichtige.

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