Kleine Korrekturen in einem stabilen System

Kleine Korrekturen in einem stabilen System
Lesezeit: 7 Minuten

Am 22. Oktober werden die Parteien jubeln, die vor vier Jahren Federn lassen mussten: Es steht eine Korrekturwahl bevor – die Schweiz wird aber auch dieses Mal nicht aus den Angeln gehoben.

Politik ist ein sehr langatmiges Geschäft, Veränderungen passieren gerade in der Schweiz nicht von heute auf morgen. Das ist oft ärgerlich, manchmal aber auch ein Segen. Nicht zuletzt darin fusst die vergleichsweise beachtliche Stabilität der Schweiz.

Ein Blick auf die ablaufende Legislaturperiode zeigt: Das Modell Schweiz funktioniert einigermassen okay. Das politische Personal, das der Souverän 2019 nach Bern delegierte, musste sich um vieles kümmern – am wenigstens um die Themen, die noch im Wahlkampf hochgekocht wurden. Wer hätte ahnen können, dass eine Pandemie die Welt zum Stillstand bringt, dass im 21. Jahrhundert in Europa ein barbarischer Eroberungskrieg geführt wird oder erneut eine Schweizer Grossbank ins Taumeln gerät – und dieses Mal sogar fällt?

Bei der kommenden Wahl von Nationalrat und Ständerat lohnt es sich, nicht auf vordergründige knackige Slogans zu hören, sondern den Wertekompass und die Kreativität der Kandidaten zu beurteilen. Wer ruft sofort nach dem Staat, wer möchte Rahmenbedingungen für liberale Lösungen schaffen? Und vor allem: Wer hat den Nerv, sich in Dossiers zu verbeissen, die keine sofortigen Erfolgsmeldungen versprechen?

Was bedeutet Neutralität im 21. Jahrhundert?

Der imperialistische Zar in Moskau überzieht ein europäisches Land mit einem an Grausamkeit nicht zu überbietenden Krieg und bringt die ganze europäische Sicherheitsarchitektur ins Wanken. Wann, wenn nicht jetzt, soll die Schweiz über ihre Rolle in Europa und ihre eigenen Sicherheitsinteressen diskutieren? Die Schweizer Neutralität haben 1815 Grossmächte für den nun anerkannten Kleinstaat erfunden, sie sollte vorrangig eines bewirken: Wenn sich Deutschland und Frankreich alle paar Jahrzehnte aufs Dach geben, soll sich das kleine Nachbarland heraushalten.

Wenn diese Neutralität in SVP-Flyern abgefeiert wird, ist das sicher herzig, aber vor allem Augenwischerei. Solange die rechtsextremen Parteien in Deutschland und Frankreich von den Hebeln der Macht ferngehalten werden können, werden unsere Nachbarn keinen Konflikt anzetteln. Kriege in Europa sind aber leider nicht auszuschliessen, das Blutbad in Jugoslawien vor der Jahrtausendwende hätte so niemand erwartet, ebenso den aktuellen Versuch, mit Panzern die Glorie der Sowjetunion zu restaurieren.

Die Schweiz gehört seit je her zum Westen, zu den einigermassen demokratischen und freiheitlich organisierten Ländern. Es gibt keinen Grund, das zu verleugnen. Die Schweiz muss deshalb nicht direkt dem westlichen Verteidigungsbündnis Nato beitreten, aber ehrlicherweise eingestehen, dass die Schweiz auf diese Organisation angewiesen wäre, wenn es knallt. Machen wir ein Gedankenspiel: Können wir uns einen Konflikt in Europa vorstellen, in dem die Schweiz auf der anderen Seite als derjenigen der Nato steht? Es wäre sinnvoll und ehrlich, Formen der Kooperation mit der Nato auszuhandeln, im Wissen, dass dies auch ein Geben und nicht nur ein Nehmen bedingt.

  

Massnahmen analysieren

Die Pandemie hat gezeigt, dass unser gemächlicher Politbetrieb uns oft davor bewahrt, ins Extreme abzugleiten. Vieles an der Schweizer Corona-Politik ist noch aufzuarbeiten, viele gut gemeinte oder schlicht übereifrige Massnahmen waren rückblickend betrachtet unnötig, an anderen Fronten hätte dafür schneller und konsequenter gehandelt werden müssen. Konnte man das damals wissen? Es gab übrigens Bereiche, wo Politik und Wirtschaft vorbildlich agierten und grosszügige Hilfspaketen für die Wirtschaft u. a. mit Krediten und Kurzarbeitsbewilligungen schnürten: So wurde eine vergleichsweise rasche Erholung der Schweizer Wirtschaft ermöglicht. Dafür fehlte während der ganzen Pandemie ein echter Krisenstab; der Bundesrat liess seinen Gesundheitsminister werkeln, der sich dafür von den bevorzugt informierten und gehätschelten Ringier-Publikationen feiern liess.

Eine nüchterne Analyse von aussergewöhnlichen Ereignissen und Massnahmen ist zwingend notwendig, auch, um die Strukturen unseres Staats im Krisenfall zu überprüfen.Es ist mehr als ein Schönheitsfehler, wenn der Bundesrat regelmässig mit Notrecht agiert – agieren muss? – und etwa im Falle der über Nacht eingefädelten CS-Rettung das Parlament im Nachhinein zwar «Njet» sagt, das aber keine Rolle spielt.

Vermutlich hat der Bundesrat in diesem Fall die beste aller schlechten Lösungen durchgepaukt, aber solche Vorgänge werden immer weniger vermittelbar. Insbesondere dann, wenn jedes von tatsächlicher Verantwortung befreite Grüppchen medial sein eigenes Süppchen kocht.

Verschwörungsgläubige mischen mit

Die Coronamassnahmen wurden zu Recht kritisch hinterfragt, doch jegliche vernünftige Diskussion wurde von lauthals krakeelenden Verschwörungsgläubigen ins Absurde gedreht. Nachwehen dieser Zeit finden sich bald in den Schweizer Briefkästen: In etlichen Kantonen haben sich Massnahmengegner formiert und eigene Nationalratslisten eingereicht. Manche der Köpfe lassen sich im Sumpf zwischen rechtsextremer Kleingeistigkeit und schillernder Esoterik verorten, andere darf man getrost als verwirrt bezeichnen.

In der nächsten Legislatur gilt es, das Verhältnis zu Europa zu klären, den Zugang zur internationalen Forschung wieder herzustellen, die Energieversorgung der Schweiz sichern, die Altersversorgung zu finanzieren, den Fachkräftemangel zu bewältigen, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu definieren, eine Formel für die Migration zu finden und sich nüchtern den Herausforderungen des Klimawandels zu stellen. Wir können es uns eigentlich nicht leisten, uns dauernd vor den tatsächlich wichtigen Aufgaben zu drücken und uns genüsslich über Klimakleber und Gendersternchen zu streiten. Beides ist nervig, bekommt in der Debatte aber entschieden zu viel Gewicht. Und: Wollen wir wirklich Volksvertreter im Bundeshaus, deren Ziel es ist, «Chemtrails» zu verbieten?

Als Demokratie können wir es uns wohl nicht leisten, diese kleine und heterogene, aber sehr laute Minderheit einfach abzuschreiben. Eigentlich wäre es sogar wünschbar, dass ein, zwei Figuren aus dem Milieu der Corona-Verschwörungs-Erzähler die Wahl schaffen: Um zu erkennen, dass das Bundeshaus wohl voller verschlungener Pfade und komplexer Vorgänge ist, aber keine Filiale des «Deeper State».

Auch interessant

Die Thurgauer FDP meldet sich zurück
Eidg. Wahlen 2023

Die Thurgauer FDP meldet sich zurück

Ein geruhsamer Sonntag in Innerrhoden
Eidg. Wahlen 2023

Ein geruhsamer Sonntag in Innerrhoden

Dieses Mal schafft es Zubi nicht mehr
Schwerpunkt Eidg. Wahlen 2023

Dieses Mal schafft es Zubi nicht mehr

Der Stress geht weiter

Die letzten Jahre waren mit aussergewöhnlichen Ereignissen ein anhaltender Stresstest, insbesondere für die Wirtschaft. Der seinerzeitige «Frankenschock» (der Wegfall des Mindestwechselkurses gegenüber dem Euro) kommt manchem KMU-Lenker heute im Vergleich wie ein Kindergeburtstag vor. Die Pandemie warf weltweite Lieferketten über den Haufen, Produktionen standen still, weil entscheidende Teile fehlten. Der angestrebte Atomausstieg plus gleichzeitige Massnahmen zur Dekarbonisierung plus das Herunterfahren von Brennstoff-Importen aus Russland verteuerten Energie schlagartig und befeuerten zudem Befürchtungen nach einer Energiemangellage.

Die gute Nachricht ist: Die Schweizer Wirtschaft hat den Stresstest mit Bravour bestanden. Sie läuft so gut, dass sie chronisch über zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte klagt. Die schlechte Nachricht ist: Der Stress geht weiter. Viele der aktuellen und künftigen Themen sind eng verknüpft, und fast alle haben direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft. Selbstverständlich kann und muss die Schweiz als eines der innovativsten und reichsten Länder der Erde mehr tun, um den Klimawandel abzubremsen. Dafür braucht es kluge, nachhaltige und auch einschneidende Massnahmen – aber keine plakativen Hauruck-Übungen, die kaum Wirkung erzeugen, aber grossen Schaden anrichten.

Die Schweiz energieautark zu machen und den CO₂-Ausstoss auf null zu senken, ist eine Aufgabe, die ein Herkules allein nicht bewältigen kann. Aber was ist bitte falsch an diesem Ziel? Falsch kann nur der Weg sein. Die Schweiz muss clever und pragmatisch vorgehen – somit in der Übergangsphase nicht ohne Not funktionierende Atomkraftwerke abstellen, wie es die kopflos agierenden Deutschen getan haben.

  

Es braucht Realpolitiker

In der Schweizer Konkordanz braucht es Politiker, die zwischen Wahlkampfgetöse und Realpolitik unterscheiden können. Es braucht Lösungen, die mehr sind als faule Kompromisse und themenfremder Kuhhandel. Und es braucht vor allem Leute, die wissen, wie die Wirtschaft funktioniert, die am Schluss des Tages alles finanziert.

Die Demografie zeigt auf, dass der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren noch viel dramatischer sein wird. Deshalb gilt es unter Wirtschaftsförderern schon länger nicht mehr als opportun, auf Teufel komm raus neue Firmen anzusiedeln, sondern viel auf Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung zu setzen. Um zusätzliche Fachkräfte freizuspielen, ohne die Migration noch stärker anzuheizen, muss die Erwerbsquote bei gut ausgebildeten Menschen in der Schweiz erhöht werden, was eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch eine steuerliche Entlastung von Doppelverdienern bedingt: Arbeit muss sich lohnen. Eine weitere Ressource an Fachkräften sind die öffentlichen Verwaltungen, die nach wie vor überproportional wachsen und qualifiziertes Personal mit hohen Löhnen an sich bindet, das anderswo fehlt.

Korrektur der letzten Wahl

Vor vier Jahren gab es eine «grüne Welle» (und auch eine Frauenwahl), bei Lichte betrachtet gab es zwischen Links-Grün, bürgerlicher Mitte und Rechts einigermassen überschaubare Verschiebungen. Diese werden nun am 22. Oktober teilweise korrigiert werden, so viel ist in den vielen Umfragen schon abzusehen. Die Grünen und die Grünliberalen werden Teile ihrer Gewinne wieder hergeben müssen, die SVP wird wieder zulegen und weiterhin die klar grösste Kraft bleiben. Dahinter kommen die etwas erholte SP und dann, wohl in einem Fotofinish, FDP und Die Mitte.Tatsächlich könnte die frühere CVP mit der inzwischen einverleibten BDP und mit von Parteiboss Gerhard Pfister im Stile der Linken geschickt inszenierten populistischen Versprechungen um wenige Zehntelpunkte an der FDP vorbeiziehen. Diese schien lange Zeit auf einem nachhaltigen Wachstumskurs; das Credit-Suisse-Debakel hat den Freisinnigen auf der Zielgeraden jetzt einen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Vor einem Jahr lag die FDP noch auf Höhe der SP und gab die Losung aus, die Sozialdemokraten zu überholen.

Nun sind die Erfinder des Schweizer Bundesstaats selbst die Gejagten. Klar ist aber auch: Der Ausgang dieses Matches wird vorerst wenig ändern – wie auch die Wahlen insgesamt keine dramatischen Veränderungen bringen werden.

Text: Philipp Landmark

Auch interessant

Die Mitte jagt den Grünliberalen den Sitz ab
Eidg. Wahlen 2023

Die Mitte jagt den Grünliberalen den Sitz ab

TG: Wer holt die beiden freien Sitze?
Fokus Wahlen 2024

TG: Wer holt die beiden freien Sitze?

«Der Staat muss wieder Diener der Menschen werden»
Fokus Wahlen 2024

«Der Staat muss wieder Diener der Menschen werden»

Schwerpunkte