«Ich baue Luftschlösser – und brauche Leute, die sie verankern»
Claudio Hintermann, was war die Vision von Abacus im Jahr 1985 – und was ist davon nach 40 Jahren gültig geblieben?
Es gab weder eine Vision noch einen konkreten Plan oder Ehrgeiz. Unser Ziel war es, einige tausend Programme zu verkaufen und nie mehr als 20 Mitarbeiter zu beschäftigen. Nach ein paar Jahren wollten wir in den Ruhestand gehen – doch dazu ist es bis heute nicht gekommen. Planung gehörte nie zu unseren Stärken.
Welche Meilensteine in den vergangenen vier Jahrzehnten waren besonders prägend?
Die Entwicklung war stets intensiv, und das Tempo erhöht sich jedes Jahr. Von DOS über Windows, LAN, Internet bis zur künstlichen Intelligenz gab es nie eine Pause – alles wird immer schneller. Besonders prägend ist, dass sich die Wünsche der Kunden ständig ändern. Wie Andy Grove schrieb: Erfolg führt zu Selbstzufriedenheit. Selbstzufriedenheit führt zum Scheitern. Nur der Paranoide überlebt. Lorbeeren sollte man eher essen, als auf ihnen sitzen.
Wie wichtig ist die Unabhängigkeit von Abacus heute – technologisch, unternehmerisch und kulturell?
Unabhängigkeit ist entscheidend, weil sie uns ermöglicht, Prioritäten zu setzen, um langfristig erfolgreich zu sein. Wir kämpfen nicht von Quartalsbilanz zu Quartalsbilanz und müssen keine bestimmte Rendite erreichen. Wir weinen auch nicht, falls die Zahlen mal nicht so sind, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir investieren, was nötig ist, ohne ständig eine Kostenrechnung zu erstellen. Wer nicht investiert, verliert schnell seine Relevanz – und wird zum Museumsfall.
«Wir ziehen Talente überall dort zusammen, wo wir sie finden können.»
Wie vermeiden Sie, dass Innovation zum Selbstzweck wird, sondern in marktfähige Produkte mündet?
Forschung ist ein Suchprozess, bei dem nie sicher ist, ob er zum Erfolg führt. Qualität steht über Quantität. Die technologische Entwicklung ist so rasant, dass sich Relevanz von gestern heute schon gewandelt haben kann. Wir sind bereit, ständig neue Wege einzuschlagen und Technologien rasch zu integrieren – schneller als viele Mitbewerber, sobald ein Vorteil für unsere Kunden erkennbar ist.
Wo liefert Abacus im Alltag spürbar mehr Effizienz, Transparenz oder Automatisierung als internationale Anbieter?
Wir verfügen über zahlreiche motivierte und clevere Mitarbeiter, die sich weiterentwickeln und verwirklichen möchten. Ihr Produkt und der Mehrwert für den Kunden sind ihre zentrale Motivation, nicht das Geld. Persönliche Leistung und ihr Nutzen für unsere Kunden stehen immer im Vordergrund.
Und wie gelingt der Übergang von Einsteigerlösungen zu komplexen ERP-Systemen, ohne Medienbruch oder Datenverlust?
Der Übergang betrifft nur eine kleine Anzahl von Kunden. Über 90 Prozent der KMU in der Schweiz haben weniger als zehn Mitarbeiter, wachsen nicht und benötigen somit keine komplexen Lösungen. Für die Fälle, in denen eine Migration nötig ist, haben wir entsprechende Prozesse und hybride Modelle, die eine reibungslose Datenübergabe ermöglichen.
«Planung gehörte nie zu unseren Stärken.»
Wie begegnet Abacus Anforderungen wie Datenschutz, Datenhoheit und Compliance, gerade mit Blick auf KI, Cloud und Regulatorik?
Wir verfügen über eine erstklassige interne Rechtsabteilung. Kundendaten sind uns besonders wichtig – noch wichtiger als den grossen Konzernen, bei denen Prozesse oft einen Missbrauch von Urheberrechten fördern, wie verschiedene laufende Verfahren – etwa zwischen OpenAI und der «New York Times» – zeigen. Wir als mittelständisches Unternehmen sind rechtlich greifbar und setzen schon aus Prinzip höchste Standards um.
Welche Kompetenzen müssen Abacus-Partner künftig mitbringen, um Kundenprojekte effizient umzusetzen?
Abacus agiert in vielen Märkten, daher sollten sich die meisten unserer Partner spezialisieren. Aus der Vielzahl vertikaler und horizontaler Applikationen sollten sie diejenigen wählen, die am besten passen. Spezialisierte Partner – etwa im Baugewerbe, bei Anwaltskanzleien, Heimen oder im Holzbau – erfüllen die unterschiedlichen Anforderungen effizienter.
Welche Rolle spielt der Standort Wittenbach für die Innovationskultur und die Rekrutierung von Talenten?
Die Situation hat sich gewandelt. Neben dem Hauptsitz in Wittenbach gibt es Standorte in Genf, Biel, Lugano und Winterthur. Wir ziehen Talente überall dort zusammen, wo wir sie finden können, und sind flexibel, was den Standort angeht.
«Wenn das oberste Ziel allein der Profit ist, verlieren wir unseren Humanismus.»
Wie funktioniert die Doppelspitze im Co-CEO-Modell, und wie stellen Sie sicher, dass Entscheidungen schnell und klar getroffen werden?
Ach, Abacus hatte immer eine Doppelspitze. Daniel Senn war zwar theoretisch COO, aber praktisch immer schon Co-CEO – und das zum Glück. Christian Huber hat einfach seine Rolle übernommen, und Daniel ist heute Verwaltungsratspräsident. Ich bin ein unheimlicher Chaot und sehr einseitig begabt. Das Einzige, was mich überhaupt teilweise zum Co-CEO qualifiziert, ist, dass in unserer Branche alles permanent im Wandel ist. Es braucht jemanden, der die Karawane zum gelobten Land bringt, weil man dort, wo man ist, nicht lange überleben wird. Wäre Abacus in einem stabilen Markt wie Lebensmittel, Kleidung oder im Heimsektor tätig, wo man lediglich bestehende Prozesse immer effizienter gestaltet, wäre ich absolut der Falsche. Ich baue Luftschlösser und brauche Leute um mich, die sie verankern und dabei meine Unzulänglichkeiten mit ihren Fähigkeiten ausgleichen.
Was soll in fünf Jahren das Vermächtnis von Abacus in der Schweiz sein?
Mir ist weniger wichtig, ob Abacus den Begriff ERP neu definiert. Es geht vielmehr darum, die Firmenphilosophie, Daseinsberechtigung, Ziele und Werte klarzumachen. Wir sind stolz auf unsere Arbeitsweise, die sich seit 40 Jahren von anderen abhebt. Wir haben nie das Kapital, das Geld oder die Rendite vor Augen gehabt – oder das, was wir an der HSG gelernt haben.
Gewinnmaximierung war nie Ihr Credo?
Nein. Rein mathematisch kann die Maximierung einer Variablen in einer Gleichung dazu führen, dass andere Grössen zwangsläufig minimiert werden – und leider betrifft das oft die Mitarbeiter, die Kunden und die Partner. Wenn das oberste Ziel allein der Profit ist, verlieren wir unseren Humanismus. Das Tragische ist, dass nicht die künstliche Intelligenz uns entmenschlicht, sondern wir uns selbst – weil wir den Menschen nur noch als Mittel zum kapitalistischen Zweck sehen. Abacus zeigt aber, dass man Ziele langfristig verfolgen und dennoch erfolgreicher sein kann als viele rein gewinnorientierte Unternehmen. Wir sind nicht die Einzigen: Albert Yang, CEO von HowDinTaifun – der rentabelsten Restaurantkette in den USA – sagt: «Profit folgt einfach, wenn du die richtigen Dinge tust.» Er hat recht.
Text: Stephan Ziegler
Bild: Leo Boesinger