Historische Überraschung zum 120-Jährigen

Rund vier Dutzend geladene Gäste strömten am 19. Dezember ins Restaurant «Il tiglio» in Eschlikon, das sich im selben Gebäude befindet, in dem seit einem Jahr die Beratungsbank der Raiffeisenbank am Bichelsee domiziliert ist. Anlass der Zusammenkunft: Die 120-Jahre-Jubiläumsfeier der Raiffeisenbank am Bichelsee. Diese gilt als Urgenossenschaft der Schweizer Raiffeisengruppe – und wurde in den Tagen vor Weihnachten 1899 vom katholischen Pfarrer Johann Evangelist Traber als «Darlehenskassenverein Bichelsee-Balterswil» nach dem Vorbild von Friedrich Wilhelm Raiffeisen gegründet. Die Bank startete am 1. Januar 1900, einem Montag, mit dem operativen Geschäft. Zu Anfang zählte sie 48 per 17. Dezember 1899 beigetretene Mitglieder, darunter, als «Nummer 13», auch Trabers Schwester Veronika. Gemeinhin gilt die Raiffeisenbank am Bichelsee somit als älteste und damit auch erste Raiffeisenbank unseres Landes.
Das glaubten auch alle anwesenden Gäste – und wurden, nachdem sie von VR-Präsident Thomas Mayer, Bankleiter Ruedi Bleichenbacher und Dominik Holderegger, Vertreter des Raiffeisen-Regionalverbands Thurgau, begrüsst und mit einigen Informationen versorgt worden waren, allerdings eines Besseren belehrt. Denn Dr. phil. Hilmar Gernet (Bild), Buchautor, Historiker und Delegierter für Politik, Genossenschaft und Geschichte der Raiffeisen Schweiz Genossenschaft, erklärte den verdutzten Anwesenden in einem ebenso spannenden wie unterhaltsamen Ausflug in die Geschichte der Raiffeisenbank am Bichelsee: «Johann Traber ist unzweifelhaft ein Pionier der Raiffeisenbewegung in der Schweiz. Doch ist er nur der «zweite» Pionier – oder, exakter formuliert – der «erste erfolgreiche» Pionier der hiesigen Raiffeisenbewegung. Zwar ist die von ihm gegründete Raiffeisenbank am Bichelsee zweifelsohne die älteste aktive Raiffeisenbank der Schweiz. Doch die wirklich erste Schweizer Darlehenskasse nach dem Raiffeisen-Muster war sie nicht.»
Gottlob hielt Gernet seinen Vortrag vor dem gemeinsamen Mittagessen. Manch eine der Personen im Saal hätte sich ob dieser «Neuigkeiten» ansonsten eventuell verschlucken können.
Doch Gernet lieferte gleich im Anschluss eher versöhnliche Gründe für seine gewagten Aussagen: Der erste helvetische Raiffeisenpionier, der evangelische Theologe und spätere liberale Berner Regierungs- und Nationalrat Edmund von Steiger, welcher bereits anno 1886, rund 13 Jahre vor Traber, die ersten Raiffeisen-Musterstatuten formuliert hatte, war zwar schneller als der Bichelseer Pfarrer – doch er scheiterte auch vergleichsweise grandios: Keine der drei Raiffeisen-Darlehenskassen-Vereine «Schosshalde», «Zimmerwald» und «Gurzelen», deren Gründung von Steiger im Bernbiet lancierte, überlebte. Trabers Raiffeisenbank am Bichelsee hingegen wurde zwar erst einige Jahre später gegründet. Doch sie entwickelte sich zum Erfolgsmodell – und damit zur «ersten erfolgreichen und ältesten Raiffeisenbank» der Schweiz.
Weitere spannende Fakten und Einblicke in die Ideen, Strukturen und Entwicklungen der Raiffeisenbanken in der Schweiz finden Interessierte in Hilmar Gernets Buch «Zwei Pioniere, eine Idee, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Johann Evangelist Traber», Neukirchener Verlag, sowie in seinem jüngsten Werk «Zweimal am Start: Anfänge von Raiffeisen in der Schweiz», Wird & Weber Verlag.
120 Jahre Raiffeisenbank am Bichelsee: Einige Fakten und Zahlen
Die erste Einlage, welche die Raiffeisenbank am Bichelsee verzeichnete, datiert vom 3. Januar 1900: Es handelte sich um eine Obligation über 150 Franken zum Zins von 4 Prozent.Ende 1900, nach dem ersten Geschäftsjahr, betrug die Bilanzsumme 34'500 Franken und die Zahl der Mitglieder war von 48 auf 61 gestiegen. Ende 1950 betrug die Bilanzsumme 4.3 Mio. Franken, die Zahl der Mitglieder 239 – bei 1'417 Einwohnern. Heute, nach der Fusion der heutigen Raiffeisenbank am Bichelsee mit der RB Turbenthal und der RB Eschlikon liegt die Bilanzsumme bei rund 870 Mio. Franken und die Zahl der Mitglieder bei gut 7'550.
Am 25. September 1902 gründete Traber mit zehn weiteren Raiffeisen-Darlehenskassen, die zwischenzeitlich in den Kantonen Luzern, Basel Landschaft, Schwyz und St.Gallen gegründet worden waren, die Genossenschaft «Schweizerischer Raiffeisenverband» (heute Raiffeisen Schweiz).
Anno 1986 erreichte die Zahl der selbstständigen Genossenschaftsbanken mit 1'229 Stück den bisherigen Rekord. Aktuell sind es aufgrund von Fusionen noch rund 220.
Traber mahnte immer wieder: «Der Zweck der Kassen ist nicht das Hypothekargeschäft, sondern die Beschaffung von Betriebskapital.» Daher sollten sich die Verbandsmitglieder bei der Vergabe von Hypotheken zurückhalten.
Trabers Schwester Veronika war vom ersten Tag an als Mitglied der Raiffeisenbank involviert. Sie erledigte Trabers Bürokram, agierte als Backoffice, führte den Pfarrhaushalt und zog gemeinsam mit Traber den Sohn ihrer früh verstorbenen Schwester auf. Längst sind Frauen bei der RB am Bichelsee nicht mehr nur im Segment «Logistik & Services» aktiv – und zahlenmässig sind sie sogar in der Überzahl. 21 der aktuell 38 Personen im Team (inkl. VR-Mitglieder) der Raiffeisenbank am Bichelsee sind Frauen.
Im Alter von 74 Jahren, zwei Jahre vor seinem Tod, prognostizierte Johann Evangelist Traber anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums des Raiffeisenverbands in St.Gallen eine prägnante Zukunftsvision. In dieser mahnte er, dass nur zwei Dinge die Raiffeisen «umbringen» könnten: «Erstens ein Abweichen von den eigenen goldenen Grundsätzen, welche auf dem ewigen Grundgesetz der Gottes- und Nächstenliebe gebaut sind. Zweitens brutale Gewalt, sollten hierzulande russische Zustände eintreten, die alles Recht vernichten und alle Privatinitiative zu Boden treten, wovor Gott uns bewahre.»
Kontinuität hat bei der Raiffeisenbank am Bichelsee Tradition. Bis heute gab es erst fünf Verwalter respektive Bankleiter: Johann Köchli, Ferdinand Eisenring, August Bannwart, Markus Bannwart und den aktuell amtierenden Ruedi Bleichenbacher.
Wer ohne Bücher lesen zu müssen mehr über die Raiffeisenbank am Bichelsee, die älteste Raiffeisenbank unseres Landes, erfahren möchte, kann den Raiffeisen History Trail, einen mit einer Smartphone-App verknüpften Rätselweg, abwandern. Dieser startet beim Schulzentrum Balterswil, führt über den Sonnenberg und endet im Herzen von Bichelsee, beim Pfarrhaus Traber, direkt gegenüber der katholischen Kirche.
Text und Bild: Jörg Rothweiler