«Nur noch 35 Prozent St.Gallens werden landwirtschaftlich genutzt»

«Nur noch 35 Prozent St.Gallens werden landwirtschaftlich genutzt»
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Der ausgebildete Landwirt Andreas Widmer ist seit 2011 Geschäftsführer des St.Galler Bauernverbands mit Sitz in Flawil. Ein Text von Thomas Veser aus dem Fokusteil "Agrarwirtschaft Ostschweiz" aus dem aktuellen LEADER.

Andreas Widmer, die Topografie des Kantons St.Gallen ermöglicht Landwirtschaft im Tal- und Berggebiet sowie in der Alpwirtschaft. Wie haben sich diese Bereiche in den letzten Jahren entwickelt

Die Landwirtschaft hat sich bei uns sehr stark gewandelt. Viele Bauern in der Talzone haben ihre Betriebe neu ausgerichtet, bauen neue Kulturen an oder haben die Viehhaltung optimiert. Im Berggebiet fällt eine Betriebsumstellung aus topografischen und klimatischen Gründen schwer. Es ist aber auch dort eine Verlagerung von der Milch- in Richtung Fleischproduktion im Gang. Die Alpwirtschaft ihrerseits hat nach wie vor eine grosse Bedeutung. Dies lässt sich mit kulturellen, traditionellen und touristischen Überlegungen begründen. Allerdings finden strukturelle Anpassungen aufgrund der Eigentumsverhältnisse nur beschränkt statt.

Gibt es einen Bereich, der Ihnen derzeit Sorge bereitet?

Gewiss, die Milchmarktentwicklung bereitet grosse Sorge. Der Grünlandkanton St.Gallen ist prädestiniert für die Milchproduktion. Mehr als zehn Prozent der gesamten Milchmenge werden durch die St.Galler Landwirte produziert. In vielen Betrieben findet eine Quersubventionierung durch ertragsstarke Betriebszweige oder durch ausserbetriebliche Nebeneinkommen statt. Die Zahl der Milchviehbetriebe geht rasant zurück. Heute erhalten die Bauern oft weniger als 50 Rappen pro Liter bezahlt. Das ist für ein qualitativ hochstehendes Naturprodukt wie Milch einfach zu wenig. Der Preis müsste in einer Bandbreite von 60 bis 80 Rappen liegen.

Und welche Folgen beschwört die zunehmende Zersiedlung für die regionale Landwirtschaft herauf?

Die Landwirtschaft hat 2013 Ja gesagt zur Raumplanungsrevision. Aufgrund dessen haben Bund und Kantone die entsprechenden Massnahmen getroffen. Die bessere Trennung von Baugebiet und Nichtbaugebiet ist Tatsache. Es gibt eine Bereinigung in der Siedlungslandschaft. Für viele Landwirte entsteht dadurch eine grössere Planungssicherheit. Die Landwirtschaft sieht aber auch die Wichtigkeit, dass trotz der strikten Siedlungspolitik Arbeitszonen ausgeschieden werden können. Für die Weiterentwicklung der Wirtschaft und zur Schaffung von Arbeitsplätzen ist eine flexible Boden- und Zonenpolitik notwendig. Die landwirtschaftliche Nutzfläche wird daher oder trotz Raumplanungsrecht immer kleiner. Gerade noch 35 Prozent der Fläche des Kantons St.Gallen werden derzeit landwirtschaftlich genutzt.

  

Schweizer Landwirte bekommen heute 30 Prozent weniger für ihre Produkte als 1990, gleichzeitig müssen die Verbraucher deutlich höhere Preise hinnehmen als vor drei Jahrzehnten. Wie lässt sich das erklären?

Bis 1990 wurden die Produktepreise direkt durch den Bund gestützt. Bei der Milch beispielsweise lag der Preis 1991 bei 1.07 Franken, heute wird noch die Hälfte bezahlt. Der Konsument an der Ladenfront hat in den letzten 25 Jahren nur wenig gespürt von den tieferen Rohstoffpreisen. Die ganze Wertschöpfungskette vom Produzenten bis hin zum Teller des Konsumenten ist lange. Alle wollen mit dem Produkt etwas verdienen. Das ist legitim. Wir haben aber ein Ungleichgewicht bei den Marktmachtverhältnissen: Einer Vielzahl von Produzenten steht eine kleine Anzahl mächtiger Detailhandelsorganisationen gegenüber. Eine solche Konstellation macht es schwierig, Produzenten zu organisieren und ein Marktgleichgewicht herzustellen.

Inwieweit lassen sich bäuerliche Einbussen durch Programme wie etwa «Aus der Region. Für die Region.» kompensieren?

Der Produkteverkauf über ein Label bringt einen gewissen Mehrwert und kann für den Produzenten lukrativ sein. Dabei muss aber beachtet werden, dass die Labels den Produzenten zusätzliche Produktionsauflagen vorschreiben. Kurz und bündig: Wer für seine Produkte mehr lösen will, muss dafür auch mehr leisten. Die Abhängigkeit des Produzenten vom Abnehmer ist aber sehr gross. In einer wertschöpfungsschwachen Branche wie der Landwirtschaft wird es zunehmend schwierig, Investitionen in die Labelproduktion zeitgerecht abzuschreiben.

Welche Aspekte vermissen Sie in der oft sehr polemisch, emotional und nur bedingt an Fakten orientierten Debatte über Produktion, Qualität und Kosten eidgenössischer Agrarprodukte

Unsere Landwirtschaft steht tagtäglich im Fokus der Gesellschaft. Die Bevölkerung will wissen, woher ihr Essen stammt, wie dieses produziert wurde, wie der Bauer zusammen mit der Natur arbeitet und ob es den Tieren auf den Höfen wohl ist. Das führt dazu, dass wir in unserem Land rund acht Millionen Landwirtschaftsexperten haben. So ist es nicht verwunderlich, dass Kommentare gegenüber der Landwirtschaft teilweise undifferenziert ausfallen. Es wird kritisiert und verunglimpft und die Landwirtschaft muss für viele Problemchen in diesem Land den Kopf hinhalten. Umfragen zeigen aber, dass über 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit der einheimischen Landwirtschaft zufrieden sind.

 

In der Öffentlichkeit wird immer wieder kritisiert, dass Bauern angeblich zu wenig unternehmerisch und betriebswirtschaftlich denken und handeln. Ein berechtigter Vorwurf?

Nein, die Landwirtschaft produziert für den Markt. Die Innovationsfähigkeit ist hoch und die Landwirte wollen Unternehmer sein. Sie haben jedoch mit drei grossen Hürden zu kämpfen. Erstens: Die Natur bestimmt zum grossen Teil was, wie und wann produziert wird. Die Natur ist zudem weder steuer- noch planbar. Zweitens: Die Agrarpolitik setzt ein enges Korsett, es fliessen zwar Direktzahlungen, die unternehmerische Freiheit wird dadurch jedoch eingeschränkt. Drittens: Das Raumplanungsrecht und die Vorschriften über das Bauen ausserhalb Bauzone verunmöglichen unternehmerisches Handeln fast gänzlich. Landwirte werden im Vornherein nie Unternehmer sein können, wie das in der übrigen Wirtschaft der Fall ist.

Stichwort Lockerung des bäuerlichen Bodenrechts: Während das Bundesamt für Landwirtschaft darin eine Chance zur Stärkung von «Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit» sieht, verspricht sich der Dachverband Economiesu

Die Frage ist, was man unter Modernisierungsschub versteht. Ziel des bäuerlichen Bodenrechts ist, dem Landwirt und Selbstbewirtschafter den Vorrang einzuräumen. Damit sollen diese ihre Existenz sichern, ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern und einen Beitrag zur sicheren Versorgung mit einheimischen Nahrungsmitteln leisten. Eine Lockerung des Bodenrechts würde eine Umwälzung in der Landwirtschaft mit sich bringen. Grosse Betriebe in Händen von nichtbäuerlichen Kreisen dominierten, diese würden grossflächig produzieren. Wenig lukrative Böden blieben im Besitz der Bauern. Deren Aufgabe wäre dann die Landschaftspflege. Wollen wir das? Eine Lockerung des Bodenrechts stellt zudem die vom Konsumenten gewünschte Form des bäuerlichen Familienbetriebs infrage.

Text: Thomas Veser

Bild: Marlies Thurnheer