Das denkende Schilfrohr

Das denkende Schilfrohr
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Mit zunehmendem Erfolg laufen Leader Gefahr, sich zu überschätzen. Auf den Hochmut folgt der Fall. Mit dem Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal immunisieren wir uns in in unserer Serie «LEADER-Philosophie» gegen diese üblen Nebenwirkungen des Erfolges.

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo

Neigen Leader zu Hochmut und Grössenwahn? Ich frage mich, warum so viele von ihnen im letzten Drittel ihrer Wirkzeit das zerstören, was sie zuvor aufgebaut haben. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.

Napoleon führte Frankreichs Armee zwischen 1796 und 1809 von Erfolg zu Erfolg. 1810 herrschte Frankreich über ganz Europa, oder fast. Nur Spanien und England leisteten noch Widerstand; Russland war mit Frankreich verbündet. 1812 beschloss Napoleon jedoch die Invasion Russlands. Dieser verheerende Feldzug führte zu horrenden Verlusten. Innerhalb von zwei Jahren kam es zur Gegeninvasion Frankreichs und zum Fall Napoleons. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit hatte ihn blind gemacht.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele davon: Perikles und Nero in der Antike, Philipp II. von Spanien und der Sonnenkönig Frankreichs in der frühen Neuzeit, Marcel Ospel und Pierin Vincenz auf dem Schweizer Bankenplatz. All diese Leader haben anfänglich grosse Erfolge gefeiert. Sie haben die Menschen ihrer Zeit überragt. Am Ende haben sie vieles zunichtegemacht und sind teilweise in Verruf geraten. Die Frage lautet: Was können wir als Leader tun, damit uns dies in unserer Wirkungssphäre nicht passiert?

Blaise Pascal: Demut und Grösse

Blaise Pascal, Mathematiker und Philosoph aus dem 16. Jahrhundert, hat einen hilfreichen Gedanken in seinen «Pensées» hinterlassen:

«Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen, ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiss ja, dass er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiss davon nichts.

Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.»

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Eine Haltung als Leader

Pascal erteilt uns eine Lektion in Demut: Egal wie erfolgreich und mächtig wir als Leader werden, wir bleiben im Universum so zerbrechlich und vergänglich wie ein Schilfrohr. Ich muss es als Leader akzeptieren: Mein Werk
a) wird vergehen,
b) hat eine verschwindend geringe Bedeutung, und
c) rechtfertigt kein übersteigertes Selbstwertgefühl bei mir.

Wenn ich diese harte Wahrheit nicht akzeptiere, drohe ich dem Grössenwahn zu verfallen und wie die erwähnten Leader-Beispiele zu scheitern. Das gilt für politische Leader wie auch für Unternehmer.

Gleichzeitig ist mein Werk nicht umsonst. Wenn ich es bewusst gestaltet und Gutes um mich herum getan habe, erreiche ich Grösse im Sinne von Pascal. Vielleicht habe ich als Unternehmer einen gesellschaftlichen Nutzen gestiftet; eine Existenzgrundlage für Mitarbeiter und ihre Familie geschaffen; oder andere individuelle Ziele erreicht, die ich mir bewusst gesetzt habe.

Die Quintessenz einer Abwehrhaltung gegen Hochmut nach Pascal lautet: Ich weiss, dass ich nichts bin. Und trotzdem wirke ich, bei vollem Bewusstsein, in meiner begrenzten Sphäre. Das ist wahre Grösse.