In Daten-Mustern erkennen, wann Wartung nötig ist

In Daten-Mustern erkennen, wann Wartung nötig ist
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Big Data und maschinelles Lernen ermöglichen es der Division Service von Stadler, Wartungsarbeiten an Zügen präzise zu planen. Das senkt die Kosten und erhöht die Sicherheit.

Der Aufstieg von Stadler von einem kleinen Nischenproduzenten im thurgauischen Bussnang zu einem weltweit gefragten Hersteller modernsten Rollmaterials für Eisenbahnen ist eine der immer wieder gerne erzählten Erfolgsgeschichten der Ostschweizer Wirtschaft. Doch längst ist Stadler nicht mehr «nur» ein Rollmaterialhersteller: Zunehmend an Bedeutung gewinnt seit einigen Jahren auch die Wartung der Züge, der Bereich Service ist inzwischen eine eigenständige Division im Unternehmen. Ein Bereich, der sich durch den Einsatz von Big Data gerade grundlegend ändert.

Über Generationen hinweg wurde die Wartung der Züge nach starren, im Voraus festgelegten Intervallen vorgenommen. «Heute haben wir eine viel dynamischere Organisation», sagt Rolf Claude, Head Engineering Services bei Stadler. «Die Möglichkeit, mit Daten zu arbeiten, bietet mir für das Führen einer Maintenance-Organisation nun ganz neue Instrumente für die Modellierung, Planung und Voraussage.» Das sei ein kompletter Paradigmenwechsel gegenüber früheren Zeiten, als man den Unterhalt eines Zuges geplant habe, ohne zu wissen, wie er sich in der Praxis verhalten würde.

Präzise Voraussagen

Heute wird der Zustand eines Zuges in Form von vielfältigen Daten erfasst, wie Rolf Claude erläutert, «ich kann den Zug monitoren und so über nötige Wartungsarbeiten entscheiden». Während es bei Condition-Based Maintenance primär darum geht, Arbeiten auf den tatsächlichen Zustand des Zuges auszurichten, «denkt» Predictive Maintenance weiter: «Beispielsweise suche ich nicht immer spezifische Fehler, sondern Anomalien», sagt Rolf Claude. Dafür muss zuerst einmal definiert werden, was die Normal Operation des Zugs ist. Dann detektiert das System jede Abweichung, auch wenn nicht klar ist, ob ein und wenn ja welcher Fehler ihr zugrunde liegt. «Das ist dann die grosse Kunst zu sagen: Ist das wirklich ein Fehler – oder trat die Anomalie vielleicht aufgrund eines Sturms auf? »

Um Gewissheit zu haben, kann es nützlich sein, die Daten einer Flotte von mehreren Zügen im gleichen Gebiet zu vergleichen: Zeigen alle diese Anomalie, dann liegt es wohl nicht an einem einzelnen Zug. Ebenso spielt es eine Rolle, wo ein Zug im Einsatz steht. Fährt er gerade über unzählige Weichen in den Hauptbahnhof Zürich ein, sagt eine Messung der Vibrationen nichts mehr aus. «Eine solche Strecke schneide ich als Pattern-Fenster bei der Datenanalyse aus.»

Mit Predictive Maintenance wird es dem Betreiber ermöglicht, präzise Voraussagen zu machen. Zum einen melden bestimmte Komponenten gleich selbst, dass sie ein Problem haben und setzen eine Error-Meldung ab, zum anderen wird auch das Verhalten bestimmter Teile gemessen, was Rückschlüsse auf deren Zustand ermöglicht. Anhand der Daten-Muster kann ein Algorithmus beschreiben, wie sich eine Situation entwickeln wird und eine Aussage zur Probability machen, zur Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls in einem gewissen Zeitfenster. Die Information könnte etwa lauten, dass eine Komponente in den nächsten vier Wochen mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent ausfällt. «Solche Aussagen werden die Planung der Wartungsarbeiten erleichtern», erklärt Rolf Claude.

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«Der Zug sagt mir, welche Wartungsarbeiten wann nötig sind.»

Wartung optimiert

In der Eisenbahnindustrie gelten immer noch sehr rigide Maintenance-Fenster und der Grundsatz, dass ein Zug nur repariert wird, wenn er im Depot steht. «Ein Flugzeug wird auch noch gewartet, wenn es am Gate steht und die Passagiere einsteigen. Niemand wird nervös, wenn ein Techniker vor dem Start noch ins Cockpit läuft», sagt Rolf Claude. «Ich weiss allerdings nicht, wie es aufgenommen würde, wenn ein Mechaniker im Bahnhof am Zug Unterhalt betreibt.» Für die Wartung muss ein Zug also jedes Mal ins Depot gefahren werden. «Das ist die grosse Bürde: Der Zug ist dann wirklich offline und transportiert keine Passagiere.»

Weil man nicht genau weiss, wie lange bestimmte Bauteile im Einsatz funktionieren, bis ein Mangel auftritt, muss eine Annahme getroffen werden. Und da Ingenieure tendenziell konservativ denken und die Sicherheit über allem steht, werden die Wartungsfristen sehr vorsichtig angesetzt.

Um die Wartung effizienter zu machen, hat Stadler schon vor der konsequenten Digitalisierung Konzepte zur Maintenance-Optimierung eingeführt. Angestrebt wird stets, die Wartungsintervalle zu strecken und die Wartungsfenster kurz zu halten. Ein Beispiel dafür ist das Balanced Maintenance System: Dabei wird das Wartungsprogramm für ein Fahrzeug als eine Serie kleinster Arbeitseinheiten betrachtet, die nicht auf einmal in einem «grossen Service» abgearbeitet werden, sondern sukzessive auf die Wartungsfenster verteilt werden, die mit dem Fahrplan abgestimmt sind. Ein Triebwagen kann beispielsweise nach dem Einsatz im morgendlichen Pendlerverkehr für eine Reparatur an der Klimaanlage ins Depot geholt werden, am frühen Abend steht er dem Betrieb dann für die zweite Verkehrsspitze wieder zur Verfügung. Dadurch wird einerseits das Personal optimal ausgelastet, andererseits fehlen dem Fahrbetrieb weniger Züge, die Flotte kommt deshalb mit weniger Reservefahrzeugen aus.

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«Die Risiken lassen sich reduzieren, wenn ich die Operation besser kenne.»

Wartung zum optimalen Zeitpunkt

Dieses an sich clevere Konzept optimiert Stadler-Service nun aber schrittweise, weil die Maintenance dynamisiert wird und die im Voraus festgeschriebenen Wartungsintervalle inhaltlich stärker auf den effektiven Zustand der Komponenten reagieren müssen. Dadurch soll die maximale Lebensdauer einer Komponente genutzt werden – «ohne die Safety zu gefährden», wie Rolf Claude betont. «Die Organisation muss einen neuen taktischen Layer einbauen, ich muss die Leute mitnehmen, ich brauche einen ganz anderen Layer, ein anderes Denken der Verantwortlichen. Die Planung bekommt dadurch eine grössere Bedeutung. Das kann nur dann funktionieren, wenn der Datenfluss und das Data-Processing im Hintergrund gut sind.»

Ein Fahrzeug zum sowohl aus Sicherheits-Anforderungen als auch aus ökonomischen Überlegungen optimalen Zeitpunkt warten zu können bedingt, dann auch auf die personellen Ressourcen und das nötige Ersatzmaterial zurückgreifen zu können. «Der Logistik-Prozess, um das richtige Material zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu haben, ist ebenfalls ein Daten-Thema», erklärt Rolf Claude.

Nur messen, was brauchbar ist

Die datenbasierte Wartung ist eine Entwicklung, die in der ganzen Branche Bedeutung gewonnen hat und eigentlich gerade erst begonnen hat. Stadler sei bei dieser Entwicklung «gut dabei», meint Rolf Claude, «die Kunst ist, die richtigen Schritte am richtigen Ort zu machen.» Es gebe viele sehr unterschiedliche Ansätze in der Industrie, «man kann sich in dem Gebiet auch wunderschön verrennen». Dann nämlich, wenn man mit der grossen Kelle anrichte und glaube, alle Themen auf einmal erschlagen zu können. Wer kundenorientiert und wertorientiert denke, versuche nicht, alles zu messen, was messbar ist, «sondern nur Werte, die echten Nutzen bringen.» Wer sich die Schlüsselfrage, wozu ein Wert gemessen wird, nicht stelle, sondern einfach Big Data mache, um Big Data zu machen, der komme nicht so weit.

Die Anwendungsmöglichkeiten sind freilich auch big, und ausgereizt sind die noch lange nicht. Der nächste grosse Schritt wird sein, die vielfältigen Vorleistungen zu einer Plattform zu verknüpfen und den so entstehenden Mehrwert abzuschöpfen. Stadler möchte eine modulare Daten-Integration oder spezifische Kundenportale anbieten, aber auch die ganze Tool-Chain in der Wartung optimieren. Das soll in erster Linie der Zuverlässigkeit des Betriebs zugutekommen, schliesslich lautet das Motto der Division Service «Making sure it rolls».

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Ein messbares Versprechen

Zugbau ist grundsätzlich Maschinenbau auf Kundenbestellung. Der Operator definiert deshalb nicht nur wie er, den Zug einsetzen will, sondern auch, welche Daten sichtbar sind. «Wir haben da eine sehr hohe Kundenorientierung», sagt Rolf Claude

Heute wird ein Zug nicht einfach gebaut und beim Kunden hingestellt, Teil des Vertrags ist jeweils eine Validierungsphase, die sich beispielsweise über drei Jahre oder einige Millionen Kilometer erstreckt. «In dieser Zeit wird gemessen, wie der Zug performt, denn die Kosten, die in der Operation anfallen, sind Teil des Verkaufsversprechens.» Darum wird ein Zug heute auf optimierte Lebenszykluskosten ausgerichtet – Energieverbrauch, Trasseekosten und Wartungsaufwand müssen schon in der Projektierung des Zugs berücksichtigt werden.

Stadler ist deshalb sehr daran interessiert, für den Kunden attraktive, aber auch sehr realistische Versprechen abzugeben. Die Daten, die ein Stadler-Zug im Einsatz sammelt, werden deshalb nicht nur genutzt, um die Wartung zu optimieren, sie werden auch den Konstrukteuren zurückgespiegelt. Diese Erfahrungsdaten können beim Bau einer nächsten Serie wieder genutzt werden, der Hersteller kann schärfer kalkulieren, was dem Kunden versprochen werden kann, wie Rolf Claude erläutert: «Die Daten ermöglichen ein besseres Riskmanagement – die Risiken lassen sich reduzieren, wenn ich die Operation besser kenne.»

Durch das Monitoring verschiedener Operationen bekommt Stadler einen sehr viel detaillierteren und aktuelleren Einblick ins eigene Service-Geschäft, was der Planbarkeit zugutekommt. «Das Service-Geschäft ist sehr langfristig ausgelegt und zwingt uns deshalb, einen klaren Blick auf kommende Themen zu haben.»

«Die Kosten, die in der Operation anfallen, sind Teil des Verkaufversprechens.»

Fehler eindeutig erkennen

Viele Komponenten und Systeme in einem Zug sind einer hohen Beanspruchung ausgesetzt. Jede Türe einer S-Bahn beispielsweise öffnet und schliesst sich über hundert Mal täglich. Darum haben die komplexen Türsysteme eigene interne Controller, die sich selbst überwachen und die Informationen von verschiedenen Sensoren ein erstes Mal verarbeiten.

«Wir wollen aus den Daten nicht einfach nur einen Alarm generieren, sondern wir wollen sie auch übersetzen: Was ist wirklich kaputt? Das ist eine prozessuale Frage», sagt Rolf Claude. Je feiner Informationen gesammelt werden und je mehr das System gelernt hat, desto differenzierter können Fehlermeldungen ausfallen. Wenn die Geschwindigkeit der Türschliessung nicht stimmt, kann das System inzwischen unterscheiden, ob der Riemen irgendwo klemmt, der Motor nicht rund läuft – oder vielleicht ein Passagier mit einem Gepäckstück die Türe blockiert.

Der Controller kann einen entsprechenden Error-Code herausgeben, der dem Lokführer angezeigt wird. Gleichzeitig werden auch alle generierten Daten aus dem Zug in eine Zentrale überspielt, wo sie verarbeitet und analysiert werden. Diese Daten fliessen in ein Train Monitoring ein, auf einem Dashboard können alle relevanten Funktionen in Quasi-Echtzeit überwacht werden. «Man weiss, welcher Zug welches Problem hat», erklärt Rolf Claude.

Je nach Organisation werden diese Informationen in einem «Maintenance Control Center» von einem geschulten Mitarbeiter angeschaut. Oft wird auch eine Helpline für Lokführer eingerichtet: Wenn im Führerstand eine Error-Meldung erscheint, kann der Lokführer in der Zentrale rückfragen. Dort werden die Daten analysiert, die Disposition kann Ratschläge und Hinweise geben und insbesondere auch sofort entscheiden, ob ein Zug ausgewechselt werden muss oder ob die Behebung des Problems Zeit hat.

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Nicht nur Maschinendaten

Die Mechaniker, die in den Depots Stadler-Züge warten, sind längst mit Tablets oder anderen Mobile Devices ausgerüstet, auf denen eine Maintenance-App läuft. Damit können sie einerseits ihren Auftrag sauber abarbeiten, die Mechaniker wissen genau, was sie prüfen, ersetzen, schmieren oder testen müssen. Anderseits können Mechaniker auch Informationen hochladen, sie rapportieren alle ihre Tätigkeiten und geben beispielsweise ein, welche Störung sie vorfanden. «Da wird es nun spannend», hält Rolf Claude fest, «denn wenn ich die Daten, die ein Mechaniker eingegeben hat, und die Maschinendaten zusammensetzen kann, dann bekomme ich wirklich die gesamte Sicht der Maintenance. Ich sehe also nicht nur, dass der Zug eine Störung meldete, sondern auch die Aktion, die am Ende die Störung behoben hat.»

Während die Maschinendaten schön strukturiert sind, und deshalb sehr einfach auszuwerten sind, kommen von den Mechanikern auch unstrukturierte Daten wie Freitext oder Bilder; möglicherweise auch Eingaben, die nicht stimmen. Um daraus nun nützliche Erkenntnisse zu gewinnen, braucht es Anwendungen, die in der Datenflut Muster erkennen. «Das sind dann schöne Applikationen für Machine Learning», sagt Rolf Claude.

Digitaler Zwilling

Bei der Konstruktion eines Zugs bekommt Stadler nicht nur zahlreiche Komponenten von Zulieferern, sondern auch eine Unmenge an Daten der jeweiligen Hersteller einzelner Bauteile. Diese Daten gilt es, intelligent zusammenzusetzen und gleichzeitig viel Datenballast zu entfernen. «Wenn man das schafft, redet man von einem Digital Twin, dann habe ich das digitale Abbild des Zugs», erläutert Rolf Claude. Einen solchen digitalen Zwilling kann man nun mit tatsächlich gemessenen Daten eines realen Zugs einen virtuellen Einsatz fahren lassen. Es entstehen Möglichkeiten, den Unterhalt zu unterstürzen und durch die digitale Begleitung, beispielsweise Guided- oder Augumented Reality, verschiedene Einflüsse zu simulieren. Damit lassen sich die Wartungsabläufe und die Prognosen von Wartungsarbeiten noch einmal verfeinern.

Noch ist diese Anwendung in der Bahnindustrie in der Entwicklungsphase, vieles sei noch «Work in Progress», meint Rolf Claude. «Aber es ist eine riesige Spielwiese, die sich hier auftut.»

Das Ziel auch dieses Spiels ist klar: Es gilt, die Verfügbarkeit des Zuges hochzuhalten. «Das ist es, was für den Operator, den Endkunden, zählt», betont Rolf Claude: «Die Ausfälle reduzieren und am Ende des Tages die Kosten runterbringen.»

Text: Philipp Landmark

Bild: Marlies Thurnheer

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