Spitalregion Ostschweiz in weiter Ferne

Gesundheitsökonom Werner Widmer.
Es war ein Paukenschlag: Vor einem Jahr verkündete der Verwaltungsrat der St.Galler Spitalverbunde, er wolle die stationäre Leistung im Kanton nur noch an vier Standorten anbieten – in St.Gallen, Grabs, Uznach und Wil. Ein Standort für jede Spitalregion. Die restlichen fünf Spitäler Altstätten, Walenstadt, Wattwil, Flawil und Rorschach sollen nicht alle geschlossen, sondern zu ambulanten Stationen umfunktioniert werden. Der Grund sind die Finanzen: Dem Spitalverbund droht bis 2023 ein jährliches Defizit von 50 bis 70 Millionen Franken, wenn keine Massnahmen ergriffen werden.
Gegen eine Milliarde für Spitalneubauten
Ein Paukenschlag war es für viele auch, weil 2014 das St.Galler Stimmvolk einen 805-Millionen-Franken-Kredit für den Um- und Ausbau von fünf Spitälern gesprochen hatte. Für das Ostschweizer Kinderspital genehmigte es ein Darlehen von 125 Millionen Franken.
Chancenlos blieb 2014 der Vorschlag der Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell, drei Spitäler inklusive des Kantonsspitals neu zu bauen und die Spitäler Flawil, Rorschach, Walenstadt und Altstätten zu ambulanten Gesundheitszentren umzunutzen. Der IHK-Vorschlag, der auf einer eigenen Studie basierte, hätte in Wattwil weiterhin ein Spital vorgesehen.
Widerstand in den Regionen
Die Spitalverbunde als selbstständig öffentlich-rechtliche Anstalten und die Politik wollen nun gemeinsam ein Ziel finden, um die St.Galler Spitallandschaft ökonomisch nachhaltig umzubauen. Als eine der ersten Massnahmen wurde beschlossen, im Spital Wattwil ab November keine Operationen mehr durchzuführen. Derweil regt sich Widerstand in der Bevölkerung der von den Umstrukturierungen betroffenen Regionen. Die Menschen wollen ihr Spital nicht kampflos aufgeben und haben Unterschriftensammlungen lanciert. In Wattwil beispielsweise wurde die Petition «Pro Spital Wattwil» mit 6'000 Unterschriften eingereicht.
Über die St.Galler Spitäler wird seit mehr als 20 Jahren diskutiert. Kritiker monieren, dass die Spitalstruktur aufwendig und teuer sei. Zu Schliessungen kam es in dieser Zeit nicht, da die Bevölkerung erfolgreich Widerstand leistete. Wie heiss das Eisen der Spitalschliessungen ist, musste 2004 der damalige Gesundheitsdirektor Anton Grüninger erfahren: Er unterstützte Schliessungsabsichten und erhielt bei den darauffolgenden Wahlen am zweitwenigsten Stimmen. Auf den zweiten Wahlgang verzichtete Grüninger anschliessend.
Viele rote und wenig schwarze Zahlen
Auch in anderen Ostschweizer Kantonen sind die Spitäler in finanzieller Schieflage: Der Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden, zu dem die Spitäler in Heiden und Herisau gehören, schloss das vergangene Jahr mit einem Defizit von 700 000 Franken ab. Im Jahr davor war es noch ein Verlust von 3,9 Millionen Franken. In Ausserrhoden wird immer wieder über eine Schliessung des Spitals Heiden diskutiert.
Rote Zahlen schreibt auch das Spital in Appenzell: Das Defizit betrug 2018 rund 1,4 Millionen Franken. Die Spital Thurgau AG, zu der die Kantonsspitäler Frauenfeld und Münsterlingen gehören, hingegen konnte ihren Gewinn 2018 gar um 2,3 Millionen Franken steigern.
Gesundheitsökonomen und Politiker fordern seit Längerem, die Spitäler müssten überkantonal zusammenarbeiten. In den Kantonsräten von St.Gallen und Appenzell Ausserrhoden gab es schon entsprechende Vorstösse. Doch in der Ostschweiz scheint man von einer gemeinsamen Spitalregion weit entfernt zu sein. Das zeigt auch das Nein der Innerrhoder Landsgemeinde zur SP-Initiative «Versorgungsregion Säntis» vom vergangenen April. Gleichzeitig planen die Innerrhoder einen Neubau: Im April 2018 genehmigten sie den Kredit von rund 41 Millionen Franken für ein neues Spital in Appenzell … Auch in Liechtenstein hat die Regierung Anfang 2019 einen Bericht vorgelegt, der einen Neubau des Landesspitals vorsieht.
Die Tradition der Strukturen
Für Gesundheitsökonom Werner Widmer ist klar, weshalb es keine «Spitalregion Ostschweiz» gibt. «Dass die Kantone für die Spitäler zuständig sind, hat Tradition, und diese Struktur ist in den Köpfen der Menschen stärker verankert als das überregionale Denken, das der heutigen Mobilität eigentlich mehr entsprechen würde», sagt er. Widmer ist Direktor der Stiftung Diakoniewerk Neumünster und Dozent an der HSG zum Thema Gesundheitswesen. Eigentlich müsste es vor allem wegen der Entwicklung der Medizin, die sich immer mehr spezialisiere, grössere Einheiten geben. Für Spezialgebiete hätten kleinere Spitäler jedoch zu wenig Patienten und Fachärzte. «Hierfür braucht es ein grösseres Einzugsgebiet – auch, um gegenüber grösseren Zentren bestehen zu können», sagt der Experte. Er sei davon ausgegangen, dass durch den finanziellen Druck das System in Bewegung komme. «Dem ist aber nicht so. Viele werden wohl denken: Wenn ich schon so viel bezahle, will ich auch die beste Versorgung, und zwar direkt vor der Haustür.» Das sei jedoch kurzfristig gedacht und werde früher oder später nicht mehr funktionieren.
Die Struktur ist in den Köpfen stärker verankert als das überregionale Denken.
Die St.Galler Regierungsrätin und Gesundheitschefin Heidi Hanselmann sieht einerseits die neue Spitalfinanzierung hinderlich für eine gemeinsame Spitalregion, da mit «jeder ausserkantonalen Behandlung quasi Steuergelder und auch der Investitionsvolumenanteil für die Spitäler aus dem Kanton abfliessen». Andererseits stehe einer vertieften Zusammenarbeit über integrierte Führungs- und Organisationsmodelle vielfach der Wunsch nach absoluter Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber, sagt sie. Zudem brauche es für eine gemeinsame Planung einen politischen Konsens in Bezug auf eine Angebotskonzentration. Gemäss Hanselmann hat der Kanton in den vergangenen Jahren versucht, verschiedene strategische Partnerschaften zwischen den Spitälern Linth und Männedorf sowie der Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland und dem Landesspital Vaduz zu initiieren. Ohne Erfolg. «Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die Bereitschaft für eine interkantonale Spitalplanung abnimmt, sobald konkrete Massnahmen mit Auswirkungen auf die Spitalangebote in den Kantonen vorgeschlagen werden.»
Trotzdem würde die St.Galler Regierung eine «überregionale Planung» begrüssen. «Das haben wir schon früh bekräftig, und daran hat sich bis heute nichts geändert», sagt die Gesundheitschefin. Allerdings sei dies kein Garant für Einsparungen. «Solche resultieren dann, wenn die Zahl der Behandlungen reduziert oder die Versorgungsstrukturen effizienter ausgestaltet werden können.» Es ist aber nicht so, dass nicht bereits kantonsübergreifend zusammengearbeitet wird. So haben die Ostschweizer Kantone eine gemeinsame Spitalvereinbarung abgeschlossen und erarbeiten aktuell eine einheitliche Planung im Bereich Rehabilitation. Die St.Galler Spitalunternehmen kooperieren seit Jahren mit Spitälern in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, Glarus, Thurgau und Zürich sowie vereinzelt auch mit Privatspitälern.
«Wille und Mut fehlen»
Christiane Roth ist Verwaltungsratspräsidentin des Spitalverbunds Appenzell Ausserrhoden (SVAR). Für eine gemeinsame Spitalregion Ostschweiz fehlen ihrer Meinung nach «der Wille und der Mut». Zu viele unterschiedliche Interessen prallten aufeinander und verhinderten ein weitsichtiges Denken, sagt sie. «Es bräuchte einen starken politischen Willen. Der ist aber noch nicht spürbar.» Allerdings mache die Spitalplanung nicht an der Kantonsgrenze Halt. «Schon heute werden bereits andere Kantone miteinbezogen», sagt Roth. «Es wird darauf geachtet, dass Behandlungen, in Kooperation mit anderen Leistungserbringern angeboten werden können.» Dies betreffe insbesondere Leistungen, die durch Zentrumsspitäler abgedeckt seien. Eine «Gesundheitsversorgung Region Ostschweiz» macht ihrer Meinung nach Sinn. «Dazu braucht es aber das klare Bekenntnis aller Beteiligten, dass es darum geht, der Bevölkerung eine optimale Versorgung zu bieten, in der die diversen Akteure ihre Rollen finden und die Kantone die Leistungsaufträge dazu erteilen.»
Eine überregionale Zusammenarbeit auf «fairer gegenseitiger Basis» würde auch Carlo Parolari, Verwaltungsratspräsident der Spital Thurgau AG respektive der Thurmed AG begrüssen. «Da der Kanton Thurgau seit vielen Jahren nur noch zwei massgebliche Akutspitäler hat, sind die Patientenwege aber sehr stark etabliert», sagt er. «Wir sehen immer wieder, dass die kantonsübergreifende Patientenwanderung sehr limitiert ist, da die Bevölkerung stark an ihrem Spital in der Region hängt und dieses auch nützt.» Weshalb gibt es seiner Meinung nach keine Spitalregion Ostschweiz? «Die Verantwortlichen der Spital Thurgau AG haben es mehrfach beim Kanton St.Gallen versucht», sagt Parolari. «Das erste Mal vor etwa zwölf Jahren, leider ohne Resonanz.» Auf operativer Ebene gebe es mit dem Kantonsspital St.Gallen und den Ausserrhoder Spitälern bereits Kooperationen in diversen Fachbereichen. Auch mit dem Kantonsspital Winterthur und dem Universitätsspital Zürich finde in Teilbereichen eine enge Zusammenarbeit statt. «Unsere Zusammenarbeit Richtung Zürich ist stärker als Richtung St.Gallen/Appenzell», sagt Parolari.
Mehrere Verbunde, dieselben Räte
Gesundheitsökonom Werner Widmer könnte sich als ersten Schritt zur gemeinsamen Spitalregion vorstellen, dass in die Verwaltungsräte der verschiedenen kantonalen Spitalverbunde dieselben Leute gewählt werden. «Sie hätten die Übersicht und das überregionale Denken könnte gefördert werden.» Für eine Privatisierung der Spitäler sieht Widmer politisch «keine Chance». «Aber», fügt er an, «man müsste die Spitäler nicht nur aus der kantonalen Verwaltung nehmen und sie als selbstständige Anstalt oder gemeinnützige AG betreiben, sondern ihnen auch die Kompetenz geben, selber über die Spitalstandorte zu entscheiden.»
Text: Marion Loher
Bild: Marlies Thurnheer