Die Wirtschaft liegt auf der Intensivstation

Die Wirtschaft liegt auf der Intensivstation
Lesezeit: 5 Minuten

Die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben ganze Branchen zum Nichtstun verdammt und die Wirtschaft insgesamt schwer getroffen. Der Staat spricht Hilfe, wirft riesige Summen auf – und kompensiert die Vollbremsung doch nur punktuell.

Wer versucht, die Kosten der Corona-Massnahmen hochzurechnen, versteigt sich rasch in abenteuerliche, kaum noch fassbare Zahlenberge. Der oberste eidgenössische Kassenwart geht davon aus, dass eine Woche Lockdown mit rund 750 Millionen Franken zu Buche schlägt.

Darin seien aber Folgekosten bei AHV, Arbeitslosenversicherung, regulären Steuereinnahmen und Mehrwertsteuer gar noch nicht berücksichtigt, weshalb Bundesrat Ueli Maurer Ende März von Kosten von 60 bis 70 Milliarden Franken ausgeht – sofern der Lockdown nicht noch lange anhält. Maurer sagt voraus, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie noch 15 bis 20 Jahre lang zu spüren seien. Da würde man noch so gerne widersprechen, allein, es fehlen die plausiblen Argumente.

Nach etwas über einem Jahr einschneidender Massnahmen gibt die Wirtschaft ein sehr heterogenes Bild ab. Am härtesten trifft es diejenigen Branchen, die davon leben, dass Menschen zusammenkommen: Restaurants bleiben abgesehen von den Aussenbereichen geschlossen, Veranstaltungen wurden gestrichen. Unsere Freiheit wurde an allen Ecken und Enden beschnitten. Natürlich, auf das liebgewonnene Cordon Bleu mit Pommes Frites und auf das Abverdienen der Kalorien im Fitnesscenter kann man auch mal verzichten. Doch wenn wir damit monatelang aussetzen müssen, wird das für die Wirtin und den Fitnesstrainer ein nicht enden wollender Albtraum. Die in der Verfassung garantierte Wirtschaftsfreiheit ist toter Buchstabe.

Der Sinn und Zweck etlicher Gebote der Obrigkeit lässt sich kaum noch nachvollziehen.

In der Gastronomie geht man bereits heute davon aus, dass ein signifikanter Teil der Betriebe, je nach Schätzung bis zu 20 Prozent, Corona nicht überleben werden. Profi-Sportler können sich nach wie vor untereinander messen, auch wenn das Publikum ausgeschlossen bleibt; performenden Künstlerinnen und Künstlern aber auch nach homöopathischen Lockerungen meist nur virtuelle Bühnen mit oft ebenso virtuellen Gagen.

 

Massive Hilfe

Demgegenüber stehen produzierende Betriebe oder Dienstleister, die sich einigermassen durch die Krise schlängeln können, obwohl sie Schutzkonzepte einschränken und nicht selten Lieferketten unterbrochen wurden. Viele Betriebe behaupten sich auch, weil sie von den massiven Hilfsmassnahmen von Bund und Kantonen profitieren. Die ausgeweitete Kurzarbeit hat Kündigungen im grossen Stil verhindert, unkomplizierte Kredite und À-fonds-perdu-Beiträge halten viele Firmen liquide. Gerade diese Hilfen sind es, die schwindelerregende Kosten verursachen. Eine Alternative dazu gibt es aber nicht: Es würde eine Massenarbeitslosigkeit drohen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes würde um Generationen zurückgeworfen, es entstünden riesige Schäden an der Infrastruktur, und es würden ideelle Werte in ungeahntem Ausmass zunichte gemacht.

Was ein solches Szenario für den auch jetzt gestressten gesellschaftlichen Zusammenhalt im Lande bedeuten würde, möchte man sich gar nicht erst ausmalen. Es wäre jedenfalls nicht mehr nur sauteuer, die Kosten wären gar nicht mehr bezifferbar. Als der Bundesrat sich gezwungen sah, der Wirtschaft die Luft abzuwürgen, sorgte er gleichzeitig rasch dafür, dass die Wirtschaft künstlich beatmet wird. Betrachtet man das grosse Bild, war das eine der klügeren Massnahmen der Exekutive.

Geht man ins Detail, stösst man unweigerlich auf den Teufel in Form von widersprüchlichen, in raschem Wechsel verkündeten Massnahmen, weil die Verwaltung sich im Mikromanagement verliert. Der Blick aufs Ganze ging verloren, der Sinn und Zweck etlicher Gebote der Obrigkeit lässt sich kaum noch nachvollziehen.

In der Existenz bedroht

Das ruft logischerweise Kritiker auf den Plan, die einen mehr Fakten-orientiert, andere beeindruckend Fantasie-getrieben. Einzelne wähnen hier schon die hässliche Fratze einer entfesselten Diktatur zu erkennen.

Das ist natürlich Quatsch. Wahr ist aber: Die Corona-Massnahmen sind eine unglaubliche Zumutung. Für Teenager, die kein Sozialleben mehr haben und ihren Frust wie in St.Gallen in Krawallen ausleben. Für Seniorinnen und Senioren, die im letzten Lebensabschnitt im Heim isoliert werden. Die vielleicht sterben, ohne ihre Angehörigen nochmals gesehen zu haben – wen hat man dann vor was geschützt? Für unzählige Erwerbstätige bedeuten die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie schlicht: Untätig sein. Viele Firmen sind dadurch in der Existenz bedroht.

Wahr ist auch: Massnahmen zur Verhinderung einer ungebremsten Corona-Pandemie waren und sind nötig. Als Corona die Schweiz erreichte, musste die Politik Entscheidungen treffen, ohne über ausreichende Entscheidungsgrundlagen zu verfügen. Der Bundesrat tat dies, besonnen und stringent.

Danach allerdings franste das eidgenössische Corona-Management mehr und mehr aus. Nach Abebben der ersten Welle wurde es verpasst, frühzeitig über Entscheidungsstrukturen und Verantwortlichkeiten zu diskutieren. Dass Nationalrat und Ständerat in einem Notfall übergangen werden können, hat der Gesetzgeber explizit so vorgesehen. Dass es so lange dauert, bis das Parlament Tritt fasst, auf seine Rolle pocht und einen konstruktiven Beitrag leistet, jedoch nicht. Aufarbeiten muss man auch föderale Dissonanzen. Wenn die Kantone zurecht fordern, vom Bund Kompetenzen zurück zu erhalten, es aber doch lieber sehen, wenn heikle und unpopuläre Entscheidungen im Bundeshaus gefällt werden, machen sie es dem Bund leichter, sie grundsätzlich zu übergehen.

In einem Jahr seit Ausbruch der Pandemie in der Schweiz wurden keine verbindlichen Szenarien definiert, wann Alarmismus angezeigt ist und was auf Entspannung hindeutet. Die Kriterien wechselten etwa im Rhythmus, in dem im BAG das Faxpapier nachgefüllt werden musste. Kaum glaubt man, eine Kennzahl verstanden zu haben, ist schon ein ganz anderer Wert viel relevanter.

Die Idee, mit Contact Tracing Ansteckungsherde zu identifizieren, versandete in der Praxis, kaum stiegen die Fallzahlen etwas an. Mögliche Test-Strategien, um regionale und lokale Hotspots auszumachen, unentdeckte Ansteckungen zu finden, den Anteil an Mutationen zu identifizieren und überhaupt mehr über das Virus zu lernen, wurden monatelang zerredet.

Auch interessant

«Lockerungen kommen für die Wirtschaft zu zögerlich»
Schwerpunkt Ein Jahr Corona

«Lockerungen kommen für die Wirtschaft zu zögerlich»

«Es ging zu wie im Taubenschlag»
Schwerpunkt Ein Jahr Corona

«Es ging zu wie im Taubenschlag»

Das willkommene Bürokratiemonster
Schwerpunkt Ein Jahr Corona

Das willkommene Bürokratiemonster

Kaum glaubt man, eine Kennzahl verstanden zu haben, ist schon ein ganz anderer Wert viel relevanter.

Das Wissen über das Virus, das uns alle schachmatt setzt, ist immer noch unglaublich gering. Immerhin so viel wissen wir: Wo zahlreiche Menschen über längere Zeit in schlecht gelüfteten Räumen zusammen sind, steigt das Ansteckungsrisiko. Es kommt sehr darauf an, wie ein Raum be- und entlüftet wird, ob ausgeatmete Viren quer durch den Raum allen Anwesenden vor die Nase gesetzt oder ob sie vertikal abgesogen werden. Das lässt sich messen und abbilden. Räume, die eine geeignete Technik aufweisen, liessen sich gefahrlos nutzen. Jedoch: Bis das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) dafür ein Zertifikat erfunden hätte, ist ein Gebäude vermutlich längst verfallen. Lieber saugt man sich darum willkürliche, starre Zahlen etwa für Zuschauer an Sportanlässen aus den Fingern.

Vertane Chancen

Versagt hat die Eidgenossenschaft nicht zuletzt bei der direktesten Massnahme gegen das Corona-Virus: Bei den Impfungen. Statt frühzeitig bei allen potenziellen Herstellern eines wirksamen Vakzins grössere Mengen zu ordern, vertat das BAG Chance um Chance. Was zu so grotesken Situationen führt, dass in der Schweiz mit bedächtiger Verzögerung Impfstoffe zugelassen werden, die gar nicht geliefert werden.

Wenn auch das gemeine Volk noch warten muss, so durften sich immerhin die Mitglieder Landesregierung schon impfen lassen. Gesundheitsminister Alain Berset liess sich auch gleich gegen Kritik imprägnieren und redet die Versäumnisse seines Departements und des Bundesrats als Ganzem unbeeindruckt schön.

Je rascher ein substanzieller Teil der Bevölkerung geimpft werden kann, desto schneller kann die Gesellschaft durchatmen und die Wirtschaft durchstarten. Bis auf Weiteres sind aber die umfangreichen Unterstützungsmassnahmen für die Wirtschaft bitter nötig. Der heutige Kassenwart wird die Folgen nicht mehr ausbaden müssen. Vielleicht hat er dennoch Luscht, Kollege Gesundheitsminister zuzuraunen: «Alain, meh liefere, weniger lafere!»

Text: Philipp Landmark

Bild: Keystone

Auch interessant

Ist die Gastronomie noch zu retten?
Wirtschaft

Ist die Gastronomie noch zu retten?

Maskenpflicht und Isolation sind vorbei
Ostschweiz

Maskenpflicht und Isolation sind vorbei

Lieferkettenprobleme lasten auf der Ostschweizer Wirtschaft
Ostschweiz

Lieferkettenprobleme lasten auf der Ostschweizer Wirtschaft

Schwerpunkte