Ostschweiz

«Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Menschen in der Ostschweiz»

«Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Menschen in der Ostschweiz»
Stefan Schmid
Lesezeit: 9 Minuten

Seit 2018 ist das St.Galler Tagblatt mit seinen Regionalausgaben Teil des CH-Media-Konzerns, der gerade ein Sparprogramm durchziehen musste. «Am Ende des Tages hat diese Region die Zeitung, für die sie bereit ist, zu zahlen», sagt Tagblatt-Chefredaktor Stefan Schmid.

Stefan Schmid, wie oft hören Sie, dass Sie eine Verantwortung für die Region Ostschweiz haben?
Das höre ich oft. Aber ich sehe das durchaus auch so.

Sie haben eine Verantwortung für die Region?
Ja. In unserem Selbstverständnis haben wir eine Verantwortung, auch wenn das finanziell nicht abgegolten wird.

Hätten Sie gerne einen öffentlichen Auftrag?
Ich bin überzeugt, dass sich Medien, wenn immer möglich, ohne staatliche Hilfe finanzieren müssen. Aber was wir machen, ist Service Public. Es stellt sich die Frage: Gibt es ein öffentliches Interesse an einer Versorgung mit gut recherchierten, journalistisch aufbereiteten Nachrichten aus einer Region? Wenn wir das mit Ja beantworten und gleichzeitig sehen, wie das Geschäftsmodell der Regionalmedien unter Druck ist, dann kann man schon zum Schluss kommen, dass es Unterstützung braucht.

Als Journalist ist Ihnen wohler, einen Regierungsrat zu treffen und zu wissen: Er bezahlt mich nicht.
Natürlich.

Eigentlich müsste einem Politiker stets etwas unwohl sein, wenn ein Journalist da ist.
Das ist so. Kantonale Gelder bergen die Gefahr, abhängig zu werden. Wenn der Kanton St.Gallen mit einem Leistungsauftrag direkt Gelder ans Tagblatt auszahlen würde, dann ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis jemand frühmorgens anruft und fragt: «Hey, wieso haut ihr uns denn heute in die Pfanne?». Wir haben eine Verantwortung nicht gegenüber Behörden und Institutionen, sondern gegenüber den Menschen, die hier in der Ostschweiz leben. Aber wir sind eine private Firma, die mit dem, was sie tut, Geld verdienen muss. Es gibt jedoch eine zunehmende Divergenz zwischen der Erwartungshaltung an eine Regionalzeitung und der Anzahl Leute, die bereit sind, dafür zu zahlen. 

  

«Diejenigen beklagen sich am lautesten, von denen man selten ein Inserat sieht.»

Mit welcher Konsequenz?
Am Ende des Tages braucht jede Regionalzeitung zahlungsbereite Kunden, sonst müssen Leistungen abgebaut werden.

Fast alle Medien leiden, weil sie weniger vom Werbekuchen bekommen.
Dass sich im Zuge der St.Galler Wahlen politische Parteien über die Berichterstattung beklagen, ist normal; es kommen immer alle zu kurz. Mir ist aber aufgefallen, dass sich ausgerechnet diejenigen am lautesten beklagen, von denen man selten ein Inserat sieht. Interessant, nicht?

Obwohl Sie auf dem Medienplatz Ostschweiz der Platzhirsch sind?
Die Kategorie Platzhirsch ist mir fremd. Unser Anspruch ist, gute Geschichten so schnell und präzise wie möglich zu erzählen. Natürlich ärgere ich mich, wenn diese Geschichten an einem anderen Ort zuerst stehen. Wobei die Konkurrenz ausserhalb der Ostschweiz fast grösser ist als von anderen regionalen Playern. Wenn bei SRF oder im Blick etwas aus unserer Region zuerst kommt, wurmt mich das. Wir als Regionalzeitung müssen schneller und genauer sein.

Mit Platzhirsch war gemeint, dass die Redaktion des Tagblatts immer noch grösser ist als die Summe aller anderen Redaktionen.
Es sind rund 100 Köpfe in den Redaktionen von Tagblatt, Thurgauer Zeitung, Appenzeller Zeitung, Wiler Zeitung und Toggenburger Tagblatt tätig. Das ist eine stattliche Zahl. Und diese Köpfe sorgen immer noch für eine breite regionale Abdeckung. Ich hoffe, dass wir das so lange wie möglich aufrechterhalten können.

Gibt es eine Ostschweizer Binnen-Konkurrenz bei CH Media?
Innerhalb von CH Media arbeiten wir mit TVO und FM1 gut zusammen. Manchmal hat TVO sehr gute Geschichten, bei denen wir uns anhängen können; häufig ist es auch umgekehrt.

 

CH Media möchte sich mit seinen Marken als nationaler Player positionieren. Verliert ein Konglomerat starker regionaler Medienhäuser so nicht seine DNA?
Erstens: Das St.Galler Tagblatt hatte schon immer ein starkes überregionales Standbein; darauf hatte man Wert gelegt, auch, als man publizistisch noch eigenständig war. Das Tagblatt hatte eigene Auslandskorrespondenten und eine eigene Bundeshausredaktion und war stolz darauf. Zweitens: Natürlich hat CH Media angesichts der Grösse einen nationalen Anspruch.

Sie sind also kein regionales Medium mehr?
Doch, selbstverständlich. Am Schluss werden wir primär gelesen, weil wir in den Regionen eine wichtige Rolle spielen.

Online können Sie nachverfolgen, welcher Blickwinkel gefragt ist.
Wir erheben unterschiedlichste Kennzahlen: Wenn man reine Klickzahlen anschaut, liegen wir mit regionalen Geschichten häufig besser als mit einer Geschichte aus dem Bundeshaus. Wenn wir aber die Verweildauer, die Lesezeit von Abonnenten, anschauen, dann ist der überregionale Stoff ähnlich gut unterwegs wie regionale Geschichten. Leute, die uns abonniert haben, lesen sowohl regionale als auch überregionale Beiträge. Darum wollen wir das überregionale Angebot auf der Website nicht verstecken, sondern im Top-Bereich ähnlich gut platzieren wie regionale Geschichten.

Sie wissen jeden Tag, welcher Text drei oder vier Abos generiert hat. Das sind Kennzahlen, die es früher nicht gab. Wie gehen Sie damit um?
Früher musste man Annahmen treffen, was die Leute interessiert. Heute haben wir viele Daten zur Verfügung, das ergibt eine detaillierte Rückmeldung. Man muss dabei einordnen: Klickzahlen und Lesedauer sind nicht das Gleiche. Und es muss unterschieden werden zwischen Free-Artikeln und solchen hinter der Paywall, also zwischen Artikel, die von Gelegenheitsgästen auf unserer Website angeschaut werden, und solchen, die von unseren Abonnenten und regelmässigen Besuchern gelesen werden.

Wie stark beeinflusst das Wissen, was gelesen wird, die redaktionellen Entscheidungen?
Die Daten fliessen in die Planung von Geschichten ein. Ein Beispiel: Gastro-Themen laufen überdurchschnittlich gut. Das hatte man früher schon vermutet, jetzt haben wir die Bestätigung dafür. 

 

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«Ein Drittel der Geschichten macht fast die gesamte Reichweite aus.»

Früher wusste der Chefredaktor gewissermassen kraft seines Amtes erstens, was der Leser will, und zweitens, was wichtig ist.
Beim ersten Punkt kann man schön auf die Welt kommen. Die Relevanz spielt aber immer noch eine Rolle. Was sich geändert hat: Wir müssen uns stets fragen, wie wir diese Geschichte erzählen können, dass sie ihr Publikum erreicht. Als politische Tageszeitung wollen wir über eine Kantonsratssession berichten. Auch wenn nicht gerade die Zukunft des Kantons zur Debatte steht, sondern auf mittlerer Flughöhe in zweiter Lesung ein Gesetz revidiert wird. Also müssen wir ins Storytelling investieren, vielleicht ein Frage-Antwort-Quiz machen, ein Video mit einem Protagonisten, eine Analyse. Oder wir versuchen, auf der emotionalen Ebene ein Fallbeispiel darzustellen, um die Wirkung des Gesetzes zu illustrieren. 

Können Sie die Daten auch als Führungsinstrument nutzen?
Was wir bewusst nicht machen, ist, interne Ranglisten zu führen, welcher Journalist wie viele Klicks generiert. Auf Stufe Ressort gibt es einen gewissen Wettbewerb unter solchen, die einen vergleichbaren Raum abdecken. Wenn man da ins Hintertreffen gerät, löst das auch einen Denkprozess aus. 

Wie geht Ihr Team mit den Daten um?
Gerade auch ältere Kollegen, die anfänglich gefremdelt haben und meinten, sie liessen sich nicht von Zahlen diktieren, was eine gute Geschichte sei, sitzen heute ziemlich stolz am Tisch, wenn ihre Geschichte unter den Top Five rangiert. Solche Erfolgserlebnisse sind wichtig – man sieht, dass man aufs richtige Pferd gesetzt hat. Inzwischen ist auch allen klar: Wenn eine Geschichte hochkocht, muss man gleich nachlegen und nicht erst in drei Tagen wieder berichten, wenn das Interesse schon schwindet.

«Hit the big story hard» predigte der Boulevard schon vor Generationen.
Wir wurden aus Wirtschaftskreisen kritisiert, weil wir einen zweiten und dritten Bericht über die Gewässerverschmutzung der Firma Züger gemacht hatten. Wenn eine solche Geschichte, die relevant ist, auch gut gelesen wird, dann wird sie selbstverständlich weitergezogen. Nach aussen hat das vielleicht wie eine Kampagne gewirkt, obwohl es selbstverständlich keine war. So funktioniert Journalismus heute.

Der Vorwurf wurde laut, weil die Verschmutzung in Uzwil mit einem wesentlich gravierenderen Chemieunfall am Bodensee verglichen und weil nicht auf den CEO, sondern auf dessen Bruder, der gerade für den Nationalrat kandidierte, gezielt wurde.
Geschadet hat es ihm offensichtlich nicht, er machte ein Spitzenergebnis in der Nationalratswahl und wurde nun als Kantonsrat neu gewählt.

 

  

Sie können Ihre Performance mit anderen Titeln im CH-Media-Verbund vergleichen. Lernen Sie so voneinander?
Auf jeden Fall. Beispielsweise bei journalistischen Formaten: Wenn ein Podcast in einer anderen Region gut läuft – wieso machen wir nicht ein ähnliches Format bei uns in der Ostschweiz? Auch für die Wahlen konnten wir so etwas mitnehmen: In Luzern wurde jeder einzelne Kandidat für die kantonalen Wahlen porträtiert; jedem wurden vier Fragen gestellt. Das hat super funktioniert, das hat immer wieder Abo-Verkäufe ausgelöst. Dieses Format haben wir ein zu eins für die Ostschweiz adaptiert.

Benchmarking unter den Regionen stand wohl auch zu Beginn des jüngsten Sparprogramms bei CH Media.
Das Sparprogramm hat alle Redaktionen in einem vergleichbaren Ausmass getroffen.

Wie ist das abgelaufen?
Erst kommt die Hiobsbotschaft: Wir müssen sparen. Wir haben in kurzer Zeit über alle Bereiche gut zehn Prozent der Kosten gestrichen. Das ist ein Lupf. Diese Botschaft muss den Betroffenen überbracht werden, was Enttäuschungen und mitunter Ängste auslöst.

Ihre Herausforderung war auch, diejenigen, die bleiben, bei der Stange zu halten.
In der ersten Phase hat man fast keine Zeit, nach vorn zu blicken und sich um die 90 Prozent zu kümmern, die bleiben. Erst ein paar Wochen später kann man sich sammeln und neu aufstellen. In der Ostschweiz haben wir dazu eine Retraite mit allen Kadern auf der Schwägalp durchgeführt – als Startschuss für die Zeit danach.

Wie haben Sie selbst diese Kurve genommen?
Die Leute, die bleiben, wollen motivierte Ressortleiter – und einen engagierten Chefredaktor. Für mich war es deshalb wichtig, selbst voranzugehen und die Ressortleiter ins Boot zu holen.

 

«Leute, die uns abonniert haben, lesen sowohl regionale als auch überregionale Beiträge.»

Mit welcher Botschaft?
Wir haben nach wie vor einen einzigartigen Job! Wir sind Journalisten, die Öffentlichkeit herstellen. Unsere Aufgabe ist es, im Markt Ostschweiz möglichst erfolgreich zu sein. Das ist auch mit etwas weniger Personal möglich.

«Mit weniger Leuten noch besser sein als vorher».
Dieses PR-Märchen glaubt niemand. Aber, und davon bin ich überzeugt: Die Online-Zahlen zeigen, dass wir mit einem Drittel der Geschichten fast alle Abos generieren. Ein Drittel der Geschichten macht fast die gesamte Reichweite aus. Zwei Drittel der Inhalte sind so betrachtet zweitrangig. Stoffe, die es auch braucht, weil man eine Printseite füllen muss. Aber das sind nicht die Geschichten, über die man redet. Wenn es uns also gelingt, mit 90 Prozent der Leute aus dem Drittel vielleicht eine Hälfte zu machen, dann haben wir tatsächlich bessere Zahlen als vorher. 

Ist Ihre Botschaft angekommen?
Ich denke schon. Was mich positiv stimmt: Wir haben viele gute und überdurchschnittlich engagierte Mitarbeiter. Die Fluktuation ist tief. Es ist nicht so, dass uns die Leute davonlaufen würden.

Wichtig ist, dass Nachwuchs kommt.
Wir finden nach wie vor genügend Praktikanten und Volontäre als Berufseinsteiger. Da staunen die anderen im CH-Media-Land immer wieder. Das liegt vielleicht daran, dass wir seit vielen Jahren eine gute und strukturierte Volontärausbildung anbieten. Das hilft uns.

Das Sparprogramm ist verdaut – wann kommt das nächste?
Der Strukturwandel ist noch nicht beendet. Wir haben zum einen ein Stammpublikum von älteren Zeitungslesern, die fast 600 Franken im Jahr für die gedruckte Zeitung zahlen. In der Ostschweiz sinkt diese Zahl jährlich um fünf bis sieben Prozent, unsere Erosion hält sich in Grenzen – in Deutschland verlieren einige Regionalzeitungen rund 15 Prozent ihrer Printleser jährlich. Wir haben auch viele Kunden, die nur ein E-Paper abonniert haben; das läuft erstaunlich gut. Beides sind sehr treue Leute; es braucht viel, bis sie ein Abo kündigen. Zum anderen haben wir die Online-Welt: Da wachsen wir zwar, aber verdienen weniger Geld als im Print.

 

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Sie müssen ein neues Publikum erreichen.
Das Hauptproblem ist: Wie holen wir die jungen Leute? Ich habe gerade mit einer HSG-Studentin gesprochen, die mir sagte, sie informiere sich ausschliesslich über Instagram. Dabei studiert sie internationale Beziehungen, also ein politisches Fach. Diese Entwicklung ist ein gesellschaftliches Problem. 

Brauchen Sie andere Inhalte, um hier zu bestehen?
Es gibt Widersprüche zwischen Online und Print, aber im Kern ist eine Online-Geschichte, die gut gelesen wird, auch eine gute Print-Geschichte. Ich glaube nicht, dass die Siebzigjährigen, die heute ja alle auch am Handy-News konsumieren, so grundsätzlich anders ticken als Dreissigjährige, die nur digital unterwegs sind. Sie alle wünschen sich gute Geschichten, die gut erzählt sind. Auf welchem Kanal, ist egal. Doch die Unter-Zwanzigjährigen sind heute auf TikTok, schauen Videos mit hohem Suchtpotenzial, und da werden auch wahnsinnig viele Fake News und ungefilterte Propagandabeiträge verbreitet.

Das Gegenteil einer gedruckten Zeitung oder eines E-Papers.
Hier hat jemand Wichtiges von Unwichtigem getrennt, hat eine Auswahl getroffen. Auf TikTok fehlt diese Einordnungsleistung. Vielleicht ist das mittelfristig die Chance von uns traditionellen Medien – dass wir genau in einer Welt, die immer schneller und unübersichtlicher wird, an dieser Ordnung festhalten. 

Gibt es in zehn Jahren noch gedruckte Zeitungen?
Es gibt schon noch ein einige Jahre gedruckte Zeitungen, ob es zehn Jahre sind? Es ist nach wie vor ein riesiger Vorteil, eine Druckerei und ein gedrucktes Produkt zu haben, weil es als hochwertiger angeschaut wird als alles, was digital irgendwo erscheint.

Die gedruckte Zeitung macht ein Online-Portal glaubwürdiger?
Ja. Man sieht das übrigens bei neuen News-Portalen: Viele versuchen, nebenher noch irgendein Magazin herauszugeben. Darum könnte es durchaus sein, dass es die gedruckte Zeitung noch länger gibt, als manch einer gerade denkt.

Aber nicht mehr als Tageszeitung?
Vielleicht nicht mehr jeden Tag, allenfalls nur noch einmal in der Woche. Aber so schnell wird Print nicht verschwinden, zumal der Rückgang nicht so spektakulär ist wie in Deutschland. Ein Wachstumsmarkt ist das aber nicht mehr. Wir müssen eine starke digitale Marke sein, unser Ziel ist Online-Wachstum. Im Print wachsen wir nicht mehr. Da müssen wir schauen, dass wir unsere 80´000 Abonnenten zufriedenstellen und so lange wie möglich halten können.

Text: Philipp Landmark

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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