Schwerpunkt Krieg in der Ukraine

«Reale Gefahr der Stagflation»

«Reale Gefahr der Stagflation»
Karin Jung ist Leiterin des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons St.Gallen.
Lesezeit: 5 Minuten

Nach zwei Jahren Pandemie akzentuiert der Krieg in der Ukraine Schwierigkeiten bei Lieferketten, auch die Energiepreise steigen weiter an. In den Ostschweizer Ämtern für Wirtschaft und Arbeit rechnet man mit spürbaren Auswirkungen vor allem in Form steigender Preise.

«Erstmals seit den Siebzigerjahren besteht ein reale Gefahr der Stagflation», schätzt Daniel Wessner, Leiter des Thurgauer Amts für Wirtschaft und Arbeit. Die steigenden Preise für Energie, Rohstoffe, Strom und weitere Dinge würden zusammen mit Lieferengpässen für weitere Güter auch für die Ostschweizer Wirtschaft Folgen haben: «Die Inflation steigt und das Wachstum wird sich abschwächen», sagt Wessner voraus. In den wichtigsten Exportländern sei diese Entwicklung noch deutlich ausgeprägter als in der Schweiz. Der Frankenkurs bewege sich zudem nahe an der Parität. «Die Unsicherheit nach zwei Jahren Pandemie und jetzt mit einem Krieg in Europa kann dazu führen, dass seitens der Konsumenten weniger Ausgaben getätigt und seitens der Unternehmen Investitionen zurückgehalten werden.»

Höhere Energiepreise, Teuerung, Lieferkettenprobleme
Der Krieg treffe die Ostschweizer Wirtschaft zu einem Zeitpunkt, in dem sie sich nach Corona bereits wieder in einer relativ robusten Verfassung befinde, hält die Leiterin des Amts für Wirtschaft und Arbeit St.Gallen, Karin Jung, fest. «Wir rechnen aktuell nicht damit, dass die Ostschweizer Betriebe insgesamt massgeblich und direkt beeinträchtigt werden – dazu sind die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Ukraine bzw. mit Russland schlicht zu gering.»

«Eine angemessene Begleitung ist Grundvoraussetzung für einen Einstieg in die Arbeitswelt.»

Markus Walt, AI
Markus Walt ist Leiter des Amts für Wirtschaft  des Kantons Appenzell Innerrhoden.
Markus Walt ist Leiter des Amts für Wirtschaft des Kantons Appenzell Innerrhoden.

Sehr wohl spürbar seien jedoch die indirekten wirtschaftlichen Auswirkungen, die den Produzenten und Konsumenten im Alltag begegnen, sagt Jung und verweist auf höhere Energiepreise, Teuerung und Lieferkettenprobleme. «Insbesondere der Import von Gütern aus Asien auf dem Land- und Luftweg wird durch den Krieg beeinträchtigt. Entsprechend gibt es auch in der Ostschweiz einige Firmen, die nicht mehr alle Vorprodukte pünktlich erhalten und somit Produktions- bzw. Lieferprobleme haben.»

Preissteigerungen absehbar
Markus Walt, Leiter des Amtes für Wirtschaft von Appenzell Innerrhoden, sagt, dass einzelne Firmen vom Krieg betroffen seien. «Die Wirtschaft als Ganzes hingegen dürfte – vorausgesetzt, es kommt nicht zu einer drastischen Eskalation – nicht betroffen sein.» Neben der Problematik der Lieferschwierigkeiten könnten auch die durch die Sanktionen veränderten Rahmenbedingungen eine Schwierigkeit darstellen. Allerdings seien die Umsätze in der Ukraine und in Russland bei den meisten Unternehmen eher klein, weshalb die Aufgabe des Russlandgeschäfts meist keine dramatischen Folgen habe und sich etliche Unternehmen bereits aus diesem Geschäft zurückgezogen hätten.

  

«Bei den Unternehmen konnten Vakanzen besetzt werden, die teilweise lange ausgeschrieben waren.»

Daniel Lehmann, AR
Daniel Lehmann ist Leiter des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Appenzell Ausserrhoden.
Daniel Lehmann ist Leiter des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Appenzell Ausserrhoden.

Von indirekten Auswirkungen des Krieges auf die Ostschweizer Wirtschaft spricht auch Daniel Lehmann, Leiter des Amts für Wirtschaft und Arbeit von Appenzell Ausserrhoden. Die Energiepreise würden zu einer Verteuerung der Produktionsprozesse führen. «Damit verbunden werden auch die Materialpreise für Zulieferprodukte steigen, wir müssen mit einer steigenden Inflation rechnen», sagt Lehmann. Die Lieferfristen nähmen zu, die Beschaffung von bestimmten Produkten sei bereits erschwert. «Die Unternehmen müssen sich mit Planungsunsicherheiten und einer unsicheren Preisentwicklung beschäftigen, was zu Preissteigerungen bei den Produkten führen wird.»

Beziehung zu Russland abgebrochen
Die Lieferschwierigkeiten und die Sanktionen gegen Russland haben für einige St.Galler Unternehmen schon Auswirkungen, wie Karin Jung bestätigt. «Wir wissen von Unternehmen mit Betriebsstandorten in der Ukraine und Belarus, die nach Kriegsausbruch umgehend reagiert und ihre Produktionswerke vor Ort stillgelegt respektive ihre Geschäftsbeziehung zu Russland teils gar komplett eingestellt haben.» Einzelne Unternehmen hätten im Rahmen ihrer Möglichkeiten umdisponiert und die betroffenen Aufträge an andere Standorte verlegt.
In den anderen Ostschweizer Kantonen wirken sich die Sanktionen weniger aus, «Russland und die Ukraine sind für die Thurgauer Wirtschaft weder als Importeure noch für den Export relevant», sagt etwa Daniel Wessner. Hingegen würden verschiedene Produktionsunternehmen mit Problemen in den Lieferketten und mit den steigenden Preisen kämpfen. Auch Karin Jung sieht, dass sich bei den Lieferketten Schwierigkeiten, mit denen sich die Firmen bereits im Zuge der Corona-Krise konfrontiert sahen, nun weiter akzentuieren würden. «Betroffen sind etwa die Importeure von Halbleitern und Chips und als Konsequenz davon die Autoindustrie und deren Ostschweizer Zulieferer.»

Erst wenige Arbeitsbewilligungen
Als die ersten ukrainischen Flüchtlinge an der Grenze ankamen, hörte man in der Schweiz bereits Stimmen, dank den Ukrainern liesse sich der Fachkräftemangel lindern. Die Arbeitsmarkt-Experten aus den Kantonen dämpfen diese Euphorie aber. Zwar zeige sich, dass die bisher bewilligten Gesuche für Funktionen und Branchen erteilt worden seien, in denen ein Fachkräftemangel vorherrsche, sagt Daniel Lehmann. «Bei den Unternehmen konnten so Vakanzen besetzt werden, die teilweise seit langer Zeit ausgeschrieben waren.» Gleichzeitig müssten sich die Unternehmen bewusst sein, dass die Personen aus der Ukraine auch schnell wieder die Arbeitsstelle verlassen würden, wenn die Rückkehr möglich ist. «Das Problem des Fachkräftemangels kann deshalb nicht nachhaltig, sondern nur temporär gelöst werden.» Aus den anderen Kantonen klingt es sehr ähnlich. Schwierig abzuschätzen sei, wie lange der Krieg noch andauert und die Schutzsuchenden in der Schweiz verbleiben, sagt etwa Karin Jung. Kurzfristig dürfte der Einfluss der Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt aber gering bleiben. «Die bisherige Zahl der Arbeitsbewilligungen legt den Schluss nahe, dass es sich noch nicht um einen Gamechanger handelt.»

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«Ab und zu scheint es, dass die geografische Herkunft wichtiger sei als die Qualifikation.»

Daniel Wessner, TG
Daniel Wessner ist Leiter des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau.
Daniel Wessner ist Leiter des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau.

Grosse Solidarität
Tatsächlich wurden in St.Gallen bis Mitte April gerade gut 20 Arbeitsbewilligungen für Flüchtlinge mit dem Schutzstatus S ausgestellt, gleich viele wie im Thurgau. Dort rechnet Daniel Wessner allerdings mit einem deutlichen Anstieg der Bewilligungen. Bisher seien Bewilligungen für Produktionsbetriebe, Gastronomie, IT, im handwerklichen Bereich, landwirtschaftliche Mitarbeiter, aber auch für Lehrer und Mediziner erteilt worden. Die Solidarität der Unternehmen sei gross, viele würden sich explizit nach Ukrainern erkundigen. «Ab und zu scheint es, dass die geografische Herkunft wichtiger sei als die Qualifikation», sagt Wessner und betont: «Bei allen Bewilligungen legen wir Wert darauf, dass die orts- und branchenüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten werden.» Daniel Lehmann ergänzt, dass die Bestimmung der jeweiligen Löhne eine Herausforderung sei: «Aufgrund der unbekannten Qualifikationen der Personen und den nicht vorhandenen Sprachkenntnissen ist die Definition der Funktion und der Aufgabe für die Arbeitgeber eine Hürde.»

«Die bisherige Zahl der Arbeitsbewilligungen legt den Schluss nahe, dass es sich noch nicht um einen Gamechanger handelt.»

Karin Jung, SG

Bei der Anstellung von Flüchtlingen stellen sich neben Sprachschwierigkeiten auch ganz praktischen Probleme. «Da es sich oft um Mütter mit ihren Kindern handelt, ist vor einer allfälligen Erwerbstätigkeit jeweils die Kinderbetreuung sicherzustellen», sagt Karin Jung. Und Markus Walt weist darauf hin, dass die persönliche Situation und das Erlebte auf vielen Flüchtlingen schwer lasten würden. «Eine angemessene Begleitung ist eine Grundvoraussetzung für einen Einstieg in die Arbeitswelt.» Obwohl ihre Kultur der unseren gleiche, sei auch die kulturelle Integration nicht zu unterschätzen.

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